Die Niederlande stimmen über EU-Ukraine-Abkommen ab: Das unglaublich seltsame Referendum
Die Niederländer stimmen am Mittwoch über das EU-Ukraine-Assoziierungsabkommen ab. Aber in Wirklichkeit geht es um etwas ganz anderes.
Die Holländer stimmen an diesem Mittwoch ab – und nicht nur im Ausland fragen sich viele, warum sie das eigentlich tun. In Werbespots und Anzeigen wird um Stimmen geworben: „Nein gegen die übermächtige EU“ oder „Ja gegen Putins Aggression“. Ein findiger Unternehmer ließ sogar die Gegenargumente auf tausende Rollen Klopapier drucken.
Das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine, dem das Wahlvolk seinen Segen geben soll, ist von allen EU-Mitgliedstaaten schon unterzeichnet worden und seit dem 1. Januar 2016 in Kraft. Warum schießen die Niederlande – die derzeit die EU-Ratspräsidentschaft innehaben – jetzt noch quer?
Regierungschef Mark Rutte hat derzeit viel zu erklären. Schon 2005 schockten die niederländischen Wähler Europa mit ihrem klaren „Nein“ zur EU-Verfassung. Auch diesmal könnte es laut Umfragen auf einen Sonderweg hinauslaufen. Und der hat kaum etwas mit der Ukraine, sondern vor allem mit niederländischer Innenpolitik zu tun.
Seit dem Sommer 2015 gibt es in Holland ein Gesetz, das Bürgern Referenden auch zu großpolitischen Themen wie EU-Verträgen erlaubt. Dazu braucht es mindestens 300 000 Unterschriften. Die haben Aktivisten gesammelt. Diese Entwicklung verdeutlicht die enorme Entfremdung zwischen Bürgern und Politikern, die in Holland seit dem Mord an dem Politpopulisten Pim Fortuyn 2002 groß ist.
Zunächst hatte niemand damit gerechnet, dass das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine zum politischen Schlachtfeld zwischen der Regierung und ihren Gegnern wird. Keine der beiden Parteien zeigt sich dabei wirklich an der Ukraine interessiert – die Anti-EU-Aktivisten geben das auch offen zu. Viele von ihnen wollen ein Referendum über einen Austritt ihres Landes aus der EU. Die Briten bekommen ein solches Referendum, warum wir Holländer nicht? Einige wollen sogar die EU – in diesen Kreisen heißt sie in Anlehnung an die Sowjetunion „EUSSR“ – zerstören.
„Die EU will zu viel zu schnell, und dabei scheint Brüssel das Mandat der Bevölkerung verloren zu haben“, sagt Bart Nijman, einer der Organisatoren der „Nein“-Kampagne. „Wir wollen ein Referendum, weil wir das Gefühl haben, jemand muss endlich die Alarmglocke für unsere Demokratie ertönen lassen.“
Vielen Wahlberechtigten ist nicht ganz klar, um was es geht
Umfragen kurz vor der Abstimmung zeigen, dass vielen der 12,5 Millionen Wahlberechtigten nicht ganz klar ist, um was es überhaupt geht. Regierungsmitglieder riefen zu einem „Ja“ auf. „Eines muss klar sein: Hier geht es um die Ukraine, auch wenn mancher vielleicht Kritik an der EU hat“, sagte Vizeministerpräsident Lodewijk Asscher in der vergangenen Woche. „Es gibt andere Wege, EU-kritische Gefühle loszuwerden.“
Dabei stört es die wenigsten EU-Gegner, dass sie dem russischen Präsidenten Wladimir Putin zur Hand gehen. Denn für holländische „Patrioten“ ist Putin nicht der Schuldige am Absturz von Flug MH17 mit 192 niederländischen Opfern, sondern der starke Mann, der sich mutig islamistischem Terror entgegenstellt. Vor allem ist er damit das Gegenteil der feigen EU-Bürokraten, die ein korruptes und hoch verschuldetes Land wie die Ukraine zum EU-Mitglied machen wollen. Als ob ein Griechenland nicht reicht.
Trotz der wachsenden Kluft zwischen EU-freundlichen Parteien und vielen Wählern sind die meisten Holländer immer noch klar für die EU. Das könnte für ein deutliches „Ja“ reichen – doch so einfach ist das nicht. Das 2015 geschlossene Gesetz hat nämlich so einige Tücken.
Nur wenn mindestens 30 Prozent der Wähler ihr Kreuz machen, ist das Ergebnis gültig, und dazu darf die Regierung dieses konsultative Referendum theoretisch auch ignorieren. Damit würden allerdings genau jene Ressentiments gestärkt, die erst zum Referendum selbst geführt haben. Die Befürworter eines Neins verbreiten schon jetzt, dass die Regierung wie schon 2005 das Volk ignorieren wird.
Politik-Analysten in den Niederlanden kritisierten die Organisatoren und warnten vor einem gefährlichen Präzedenzfall. „Es besteht das Risiko, dass alle möglichen anderen Referenden in Europa organisiert werden“, sagte der Europaexperte Tony van der Togt von dem renommierten Den Haager Institut Clingendael. „Wenn sich das überall in der EU durchsetzt, kann man keine Entscheidungen mehr treffen.“
Was passiert also bei einem klaren Nein? Die Regierung von Mark Rutte hält sich bedeckt. Wird sie sich dem Votum des Volkes beugen? Dann wäre der Vertrag hinfällig. „Ein Nein“, so warnte bereits EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker, „kann die Tür zu einer großen kontinentalen Krise öffnen.“ (mit dpa/AFP)