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Ein Mahnmal erinnert in der Hauptstadt Kigali an die Opfer des Völkermords, der aus Nachbarn Mördern machte.
© Dai Kurokawa/dpa

Vor 25 Jahren begann der Völkermord: Das Schweigen in Ruanda ist geblieben

Am 6. April 1994 begann über Nacht das große Töten in Ruanda. Der Genozid ist bis heute nicht aufgearbeitet.

Die Machete hackte zu Boden. Ein Schlag, kurze Pause, dann ein zweiter, ein dritter. „Wenn man von den Hügeln hinabsah, hätte man denken können, sie ernten Bananen. Wer Bananenstauden hackt, kennt kein Mitleid“, erinnert sich eine Überlebende. Doch die Körper, die bald darauf in Reihen die rote Erdstraße säumten, verrieten, worauf die Erntehelfer es tatsächlich abgesehen hatten: ihre Nachbarn und Kollegen. 800 000 von ihnen.

In Ruanda ist der Völkermord weder vergessen noch vollständig aufgearbeitet. In direkter Nachbarschaft lebten die Hutu, die die Mehrheit der Bevölkerung stellten, mit den Tutsi, die häufig der Machtelite des Landes angehörten. Als das Morden vor 25 Jahren begann, starben etwa 75 Prozent der Angehörigen der Tutsi-Volksgruppe, und gemäßigte Hutus, die sich gegen das Töten stellten, auf grausame Weise: Vom Buschmesser aufgeschlitzt oder als Baby vom Rücken der Mutter gerissen und durch die Luft geschleudert. Innerhalb von 100 Tagen hatten die Extremisten der Hutu-Miliz „Interahamwe“ fast eine Million Menschen getötet. Viele Überlebende sind bis heute traumatisiert. „Wie jede Art von Massengewalt, hat der Genozid tiefe Narben bei den Menschen hinterlassen“, sagt Yolande Bouka, Politologin und Ostafrika-Expertin. „Das Land wurde wiederaufgebaut. Aber anders als Straßen oder Gebäude, kann man die Psychen und Körper der Menschen nicht neu schaffen.“

Ob in abgelegenen Dörfern oder den Vororten der Hauptstadt Kigali – es herrscht ein Nebeneinander, das für westliche Augen seltsam anmutet: Bei den Massakern 1994 hatten die Extremisten ihre Nachbarn, Geschäftspartner und sogar entfernte Verwandte getötet. Heute leben Täter und Hinterbliebene erneut Tür an Tür. „Ihre Wege kreuzen sich andauernd“, erzählt Anne Aghion. Die Dokumentarfilmerin arbeitete zehn Jahre in Ruanda und hielt die Aufarbeitung der Gräuel in vier Filmen fest. In den Jahren unmittelbar nach dem Genozid sei das Leben in den Dörfern von Zurückgezogenheit bestimmt gewesen. „Es war sehr still, die Leute gingen kaum nach draußen. Keine Kinder spielten im Freien“, so Aghion. Sukzessive, langsam sei in den Folgejahren der Alltag zurückgekommen.

Erschwert wird das Zusammenleben durch die teils unaufgearbeitete Geschichte: Heute, ein Vierteljahrhundert nach dem Massaker, werden immer noch Massengräber entdeckt. Im vergangenen Jahr bargen die Behörden mehr als 30 000 Leichen aus 41 Massengräbern – nicht etwa in entlegenen Regionen, sondern in der rasant wachsenden Hauptstadt. Eines der Gräber fand sich unter einem Haus, in dem Wohnzimmer mussten Freiwillige bis zu 30 Meter tief graben, um die Leichen zu bergen. „Es ist schade, dass einige Leute nach so vielen Jahren immer noch nicht verraten, wo die Opfer liegen“, sagt Naphtal Ahishakiye, Vertreter des Opfervereins Ibuka. Aufholbedarf herrscht auch an Ruandas Schulen. Viele Lehrer zögerten, das Massaker im Unterricht überhaupt anzusprechen, warnte vor kurzem der Unterrichtsminister des ostafrikanischen Landes, Eugène Mutimura. Das Thema sei ihnen „zu heikel“.

Der Aufschwung hat einen hohe Preis

Spielraum für Interpretationen oder eine Diskussion um den Völkermord – den gibt es im Ruanda von Präsident Paul Kagame nicht. 1994 beendete der Führer der „Ruandischen Patriotischen Front“ (RPF) mit seinen Rebellen das ethnische Massaker und regiert seitdem als Staatsoberhaupt. Zigtausende Ruander konnte er aus der Armut holen. Sein Land hat Frieden gefunden und die Wirtschaft blüht auch dank der boomenden IT-Branche. Doch der Aufschwung hat einen hohen Preis: Kritiker werfen Kagame Menschenrechtsverletzungen sowie Unterdrückung der Presse und Meinungsfreiheit vor.

Blumenhecken säumen die Highways der Hauptstadt. Kein Müll weit und breit. An der Ecke steht ein Schild: „Haltet Kigali sauber.“ Bitte oder ein Befehl? Das weiß niemand in Ruanda, wo einmal im Monat nationaler Putztag ist. Am letzten Samstag im Monat kommt der Verkehr zum Erliegen. Dann treffen sich die Nachbarn mit Besen und Müllsäcken, um ihren Bezirk auf Vordermann zu bringen. Das „Umuganda“ genannte Ritual heißt übersetzt „Zusammenkommen für einen gemeinsamen Zweck“. Viele Ruander sind stolz auf ihren Beitrag, der Kigali den Beinamen „sauberste Stadt in ganz Afrika“ einbrachte. Andere fürchten eine Festnahme oder eine Geldstrafe, die alle Verweigerer des Bürgerdiensts erwartet.

Vieles in Ruanda scheint staatlich angeordnet. Zum Teil auch die Versöhnung. „Wir müssen unsere Herzen neuauffüllen, sodass die Täter um Vergebung bitten und die Überlebenden vergeben“ – in Ruanda stammen Sätze wie dieser nicht vom Priester, sondern vom Staatsanwalt. Ruanda steht vor denselben heiklen Fragen wie Deutschland und andere Staaten, in denen staatlich gelenkte Massenmorde stattfanden: Wo endet freie Meinungsäußerung und wo beginnt die Ideologie der dunkelsten Tage? Dass Kagame mit despotischen Mitteln herrscht, ist keine Hilfe. Wiederholt mussten sich Opposition und andere Kagame-Gegner wegen Völkermord-Ideologie oder -leugnung verantworten. „Das schickt die unakzeptable Nachricht, dass friedliche Meinungsverschiedenheit mit der Regierung gleichbedeutend ist mit einer Straftat“, meint Maina Kiai, kenianischer Anwalt und früherer Sonderberichterstatter der Uno.

Dissidenten verschwanden in der Vergangenheit spurlos, andere wurden ermordet. So wie der ruandische Ex- Spion Patrick Karegeya, den man 2014 tot in einem Hotel in Johannesburg auffand. Aus Furcht vor den ruandischen Sicherheitskräften arbeiten heute einige Parteien von Südafrika, den USA oder Großbritannien aus. „Zweifelsohne geht es den Ruandern heute besser als früher“, sagt Carina Tertsakian. Dennoch drängt sich der Forscherin von Human Rights Watch die Frage auf: „Wieso geht man diesen bemerkenswerten Weg nicht weiter, indem man freie Meinungsäußerung zulässt?“

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