Politische Kommunikation im Internet: Das Rezo-Trauma und andere Fehleinschätzungen
Warum es so schwer für Parteienvertreter in der repräsentativen Demokratie ist, auf eine so persönliche Meinung mit begleitender Massenaufwallung wie im Fall Rezo zu reagieren. Ein Essay.
-Professor Udo Thiedeke lehrt Soziologie an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz und ist Autor mehrerer Bücher zur Mediensoziologie
Erinnern wir uns an die Aufregung, die der Blogger Rezo vor der Europawahl 2019 mit seinem Youtube-Beitrag „Die Zerstörung der CDU“ auslöste: Der Beitrag wurde innerhalb von wenigen Tagen ca. 17 Millionen Mal angeklickt. Eine besonders unglückliche Figur machten dabei die CDU als etablierte Partei und ihre Vorsitzende. Man tat sich erkennbar schwer, auf die geäußerten Kritikpunkte zu antworten, und einzuordnen, mit was man es hier eigentlich zu tun hatte.
Die Einschätzung schwankte unentschlossen zwischen „privater Meinungsäußerung“ aus den Reihen einer unverstandenen „jungen Generation“ und „Kritik aus den Medien“. Wobei die sozialen Medien aus dem Internet zu „den“ Medien gezählt wurden.
Das Beispiel illustriert allerdings weniger ein Problem etablierter Parteien, ihre Politik in der richtigen Art und Weise einer netzaffinen Generation zu vermitteln oder mediale Meinungsäußerungen zu regulieren. Das Problem liegt vielmehr darin, dass mit dem Internet und den „Social Media“ tatsächlich ein neues Medium die Bühne unser aller Kommunikation betreten hat. Und dieses neue Medium ist nicht einfach eine Erweiterung der bisher dominierenden Massenmedien.
Massenmedien standardisieren Vermittlung von Information
Der Problemzusammenhang weist über Fragen der Infrastruktur und über Fragen, wie „Content“ produziert, verbreitet und rezipiert wird, weit hinaus. Hier geht es darum, „wie“ man überhaupt unterscheiden kann. Die Art und Weise, medial zu kommunizieren, schafft neue Möglichkeiten, die Welt sinnhaft wahrzunehmen. Mit dem Blick in Rezos Welt auf Youtube eröffnet sich mithin ein Panorama der Mediendifferenzierung, und der grundsätzliche Unterschied zwischen den bisherigen Massenmedien und dem Internet wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, wie massenmedial kommuniziert werden kann – und mit welchen gesellschaftlichen Konsequenzen.
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Beginnend mit dem Buchdruck sind Massenmedien dadurch charakterisiert, dass sie die Vermittlung von Information standardisieren, automatisieren und industrialisieren. Auf diese Weise können potenziell alle, die es interessiert, gleichzeitig mit Mitteilungen in gleichbleibender Qualität versorgt werden. Allerdings ist die massenmediale Kommunikation technisch aufwendig und teuer. Sie wird daher von Medienorganisationen (Verlage, Sender, Redaktionen) betrieben und ist professionalisiert. Die Information wird von wenigen Produzenten an viele Rezipienten vermittelt, die selbst massenmedial nicht „zurückdrucken“ oder „zurücksenden“ können.
Im Ergebnis konnte das massenmediale Publikum bereits in der Anfangszeit des neuen Mediums auf Ereignisse, Personen oder Wissensinhalte fokussiert werden, die weit außerhalb des persönlichen Erfahrungsbereichs, etwa in einer anderen Stadt, einem anderen sozialen Stand, gar in der gerade entdeckten „neuen Welt“ lagen.
Veröffentlichungen müssen sich "lohnen"
Damit ist zum einen ein Transparenzversprechen gegeben. Allen, die es interessiert, sollen die relevanten Informationen über die Welt zur Verfügung gestellt werden, auch wenn sie keinen unmittelbaren Zugang zu den Informationsquellen haben. Zum anderen liegt darin ein Manipulationsverdacht begründet. Die massenmedial verbreiteten Informationen kann man selbst in der Regel nicht prüfen, und man kennt die, die ebenfalls davon betroffen sind, meist nicht persönlich. Indem diese massenmedialen Kommunikationsbedingungen im gesellschaftlichen Maßstab normal, also sozial akzeptiert wurden, konnte so ein eigener Sinnhorizont des Meinens und Wollens – „die Öffentlichkeit“ – entstehen.
Er ist entscheidend und zugleich kritisch etwa dafür, wie sich politische Meinungsbildung als „öffentliche Meinung“ vollzieht. Man kann daher jetzt fragen, ob es nicht eine Sphäre des Nichtöffentlichen gibt, die für öffentliche Belange verdächtig und für die privaten Belange vielleicht sogar notwendig und schützenswert sein sollte. Vor dem Hintergrund der massenmedialen Kommunikation sortiert sich also alles, was gesagt werden kann, nach Kriterien der Veröffentlichungsfähigkeit versus der Nichtveröffentlichungsfähigkeit.
Das ist auch der Maßstab, unter dem die Medienorganisationen der Massenmedien, z.B. all die Redaktionen der Verlage und Sender, ihre Mitteilungen auswählen und publizieren müssen. Das treibt zum einen die Professionalisierung des Journalismus voran, der sich ebenso als Gatekeeper über den Zugang zur Veröffentlichung versteht, wie als Garant für die Repräsentativität, sprich als Sachwalter der Evidenz der zur Veröffentlichung ausgewählten Informationen. Es handelt sich aber zum anderen auch schlicht um ein Erfordernis der massenmedialen Produktionsbedingungen. Der Aufwand massenmedialer Kommunikation ist nur gerechtfertigt, wenn sich die verbreitete Information zur Veröffentlichung lohnt, weil sie öffentlich interessieren könnten.
Im Internet wird Information nicht nur übertragen, sondern auch berechnet
Das hat Folgen für die Darstellung der Inhalte. In den Massenmedien können etwa Personen und Ereignisse nicht in individuellen oder partikularen Details präsentiert werden. Sie werden vielmehr inszenatorisch zu exemplarischen Personen oder Ereignissen zugespitzt, die das, worum es gehen soll, repräsentieren. Massenmediale Kommunikation etabliert daher eine Kommunikation des Repräsentativen und produziert eine Kultur der Repräsentation, in der Stars, Katastrophen und Breaking News die Wirklichkeitswahrnehmung bestimmen.
Was verändert sich nun durch die gesellschaftsweite Nutzung des Internets? Das Internet und seine Kommunikationsformen, wozu etwa Websites, E-Mail, Chats aber auch die sogenannten sozialen Medien wie Facebook, Twitter, Instagram, Whatsapp und Co. gehören, basieren technisch auf vernetzten Computern. Hier kommt also eine Medientechnik zum Einsatz, die nicht nur „überträgt“, sondern alles, was kommuniziert wird, unter Anleitung von Algorithmen (mathematischen Ablaufschemata) immerzu „berechnet“.
Das hat unter anderem zur Konsequenz, dass alles, was mit heutigen Digitalcomputern digitalisiert werden kann, in die Form eines mathematisch berechenbaren Modells gebracht wird. Da die Computer im Internet zudem dezentral vernetzt und individuell verfügbar sind, sind im Internet alle und alles (jetzt können auch künstliche Kommunikationsteilnehmer wie „Bots“ mitwirken) an eine computerbasierte Schnittstelle angeschlossen. Alle und alles steuert und berechnet sich gegenseitig. So konnten kybernetische Interaktionsmedien entstehen, das heißt steuernde und gesteuerte Medien der wechselseitigen Beeinflussung.
Jeder Klick, jede Suchanfrage beeinflusst die Information
Die Kommunikationssituation hat sich so verändert, dass alle jederzeit von überall die Mitteilungen der Kommunikation individuell gestalten und steuern und das auch unbeabsichtigt, z.B. dadurch, dass sie „ins Netz“ gehen und sich darin „bewegen“, etwa Abfragen in Suchmaschinen machen.
Im Gegensatz zu den Massenmedien wird hier also nicht nur massenhaft informiert, im Internet wird stattdessen massenhaft individuell kommuniziert. Und die Paradoxie macht die Komplexität der neuen Kommunikationssituation deutlich. Das hat einschneidende Konsequenzen für die Art und Weise wie man kommunizieren kann. Da alles durch eine berechnete Kommunikation beeinflusst wird, kann die Relativierung der Wirklichkeit ebenso alltäglich werden, wie durch den massenhaft individuellen Anschluss an das Netz eine Art Hyperindividualisierung eintritt. Auch noch die seltsamste Abweichung ist unmittelbar durch eigene Eingriffe oder in selbstgewählten Netzwerken und Gruppen medial präsent und vergrößerungsfähig. Jede individuelle Besonderheit, jedes Gefühl, jede Meinung oder Haltung, jede Begierde kann als eigentlich persönliche Meinung Millionen von Klicks, Likes und Followern provozieren.
Gleichzeitig entsteht bei dieser medialen Kommunikation eine Wahrnehmungssituation der mittelbaren Unmittelbarkeit. Man kann sofort eingreifen, sich bemerkbar machen, wenn die eigenen Emotionen hochkochen und erhält unmittelbare Reaktionen darauf. Und doch geschieht dies alles sozial distanziert. Man hat trotz der unmittelbaren, zustimmenden oder ablehnenden Reaktion den Eindruck reduzierter sozialer Konsequenzen.
Ahnung oder Amt sind nicht mehr nötig, ein Anschluss reicht
Das bedeutet, dass man sich jetzt vielleicht auch als Außenseiter traut, Beiträge zu machen oder gar zu flirten. Die mittelbare Unmittelbarkeit verführt aber ebenso dazu, Gaffervideos oder Hasskommentare sogar mit dem Klarnamen zu veröffentlichen, Verschwörungstheorien zu verbreiten oder sogar Kontakt zu extremistischen und kriminellen Meinungen und Netzwerken zu suchen. Im Internet finden also beispielsweise „Graswurzelinitiativen“ Möglichkeiten, Weltbilder zu konsolidieren, Gruppenstrukturen und Netzwerke aufzubauen und auf diese Weise zu einem selbstorganisierten „Campaigning“ zu kommen. Zugleich sind die Möglichkeiten gegeben, Gegenkulturen betroffener Individuen, Netzwerke und Gruppenstrukturen mit extremistischer oder gar terroristischer Orientierung aufzubauen. Ausgangspunkt ist immer der Eindruck, dass die Einzelnen sich ernst genommen und in ihrer persönlichen Emotionalität verstanden fühlen, weil sie sich scheinbar zwanglos und ungefiltert beteiligen und sofort eingreifen können.
Man muss jetzt nicht mehr auf die Wahrnehmung durch Experten, Statusgruppen oder journalistische Gatekeeper warten. Man bewegt sich stattdessen wie selbstverständlich im Kreis von „Freunden“, denen man oft gar nicht persönlich begegnet. Das gilt sogar für die auf den ersten Blick massenmedial daherkommenden „Sprachrohre“ auf Youtube, die sogenannten Youtuber oder Influencer, zu denen auch Rezo gehört. Sie setzen sich zu uns aufs Sofa und geben uns ihre Ratschläge nur deshalb, weil sie uns mögen.
AKK hätte auf Rezo nur als Frau ohne Ämter angemessen antworten können
Deshalb ist es so schwer für Vertreter einer Partei im politischen System der repräsentativen Demokratie, auf eine so persönliche Meinung mit begleitender Massenaufwallung wie im Fall Rezo zu reagieren: Es geht hier nicht um eine Kommunikation in den Massenmedien mit öffentlichen Akteuren. Es geht aber auch nicht mehr nur um die private Aufgeregtheit an irgendeinem Stammtisch. Mit Rezo spricht kein institutioneller Akteur, etwa der Vertreter einer NGO oder einer Redaktion. Wir hören hier aber auch keine ausschließlich private Meinung irgendeines Querulanten, der sich vor den Wahlen Luft macht.
Wollte also die Vorsitzende der Christlich Demokratischen Union Deutschlands authentisch reagieren, wollte sie in Rezos Welt eine Stimme haben, dann müsste aus der Vorsitzenden der CDU Deutschlands im Netz nicht nur AKK, aus ihr müsste „das Annegret“ werden. Dazu müsste AKK aber vom Sockel ihrer Ämter heruntersteigen und sich in eine Freundin mit speziellen Erfahrungen verwandeln. Sie müsste intim werden, intimer, als es jedes repräsentative Amt vorsieht oder gar verträgt, intimer als es sich ein Wahlkampfmanager oder der Generalsekretär der Partei für einen „Bürgerdialog“ je vorstellen könnten.
Wir sind, seit wir in sozialen Medien kommunizieren, also in einer neuen Sinnwelt angekommen. Wir sind in den „Cyberspace“ eingetreten. Das ist ein Sinnzusammenhang, in dem man Erwartungen haben kann, mit Unterstützung der Computertechnik auch als „Amateur“ überall selbst eingreifen zu können, um seine eigenen Fähigkeiten, Meinungen, Gefühle und Begierden jetzt endlich authentisch zu vermitteln.
Es beginnt ein Prozess der De-Repräsentation
Mit dieser neuen interaktionsmedialen Kommunikation geht deshalb ein Prozess der De-Repräsentation einher. Man braucht etwa zur öffentlichkeitswirksamen Artikulation keine professionellen Ausbildungen oder Ressourcen mehr. Man muss nicht gewählt, ernannt oder berufen sein, man braucht nicht zu den Intellektuellen oder gar zur „Elite“ zu gehören, um vermeintlich oder tatsächlich „etwas zu sagen zu haben“. Man braucht nur einen Anschluss ans Internet, etwas Originalität oder die Fähigkeit, ordentlich Lärm zu machen.
Für die bisherige gesellschaftliche Orientierung, die maßgeblich durch Massenmedien als Leitmedien gesellschaftlicher Artikulation mit ihrer repräsentativen Form der Kommunikation definiert wurde, bedeutet das eine Krise der Repräsentation. Und für „die Medien“ selbst heißt das schlussendlich Abschied davon zu nehmen, die Massenmedien als „Leitmedien“ zu sehen, die die Agenda der öffentlichen Meinung bestimmen. Es heißt aber auch, Abschied von „den“ Medien zu nehmen. Das bedeutet, zu realisieren, dass im Internet Rezepte und Strategien, die massenmedial, d.h. repräsentativ, begründet sind, nur noch bedingt greifen, weil angesichts der Mediendifferenzierung unterschiedliche mediale Kommunikationsqualitäten unseren Wirklichkeitseindruck bestimmen, mit all den Konsequenzen für unser Meinen, Wollen und Tun, die daraus resultieren.
Udo Thiedeke
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