Schriftsteller Clarke über den Brexit: "Das Referendum hat für komplette Anarchie gesorgt"
Drei Monate nach dem Brexit-Referendum spricht der britische Schriftsteller Stephen Clarke in einem Interview mit EurActiv Frankreich über die Wahlkampflügen, die britische Presse und die „Arroganz“ der EU.
Stephen Clarke ist Autor zahlreicher Bücher über die französisch-britischen Beziehungen, darunter der Bestseller „Ein Engländer in Paris“. In seinem jüngstem Roman, „God save le Brexit“, sieht sich ein verunsicherter Wähler mit der Brexit-Debatte konfrontiert.
Wie würden Sie den Brexit gut 100 Tage nach dem Schock-Referendum beurteilen?
Die Menschen haben zwar dafür gestimmt, aber es ist dennoch ein echter Albtraum. Jetzt wollen sich Schottland, Wales und Nordirland abspalten. Das Vereinigte Königreich wird sich auflösen und England ganz auf sich gestellt sein, wenn es sich nach innen kehrt.
Warum, glauben Sie, hat sich die Briten für den Brexit entschieden?
Man hat ihnen den ganzen Wahlkampf über Lügen aufgetischt. Viele von ihnen wussten das natürlich – immerhin sind Wähler nicht komplett ahnungslos. Aber sie waren genauso wie Donald Trumps Unterstützer: Sie wollten all das glauben. Vor allem die Leave-Kampagne hat Vorurteile bedient, die schon lange in der britischen Gesellschaft verwurzelt sind – zum Beispiel in Sachen Ausländerfeindlichkeit. Das Brexit-Lager hat sich auf diese Angst vor „dem Fremden“ konzentriert. Gemeint waren damit vor allem Polen und Rumänen. Sie wollten sogar die Pakistanis und Inder davon überzeugen, dass Großbritannien im Falle eines Brexits, die Grenzen für ihre Landsleute öffnen würde. Das war natürlich komplett gelogen.
Sind die europäischen Institutionen ebenfalls gewissermaßen für den Brexit verantwortlich?
Selbstverständlich, und zwar zu einem großen Teil. Europa ist unheimlich schlecht im Kommunizieren. Brüssel ist eine Blase der Arroganz, gefüllt mit Leuten, die glauben, sie seien unantastbar. Sie müssen in der ganzen Brexit-Geschichte definitiv ihren Teil der Verantwortung übernehmen. Wir brauchen eine Kampagne, die die EU verteidigt und die verdrehten Konzepte der britischen Presse Lügen straft. Ich habe mich darüber bereits mit einigen EU-Vertretern unterhalten. Sie sagen: „Wenn wir ordentlich kommunizieren, wirft uns die britische Presse Propaganda vor.“ Den Institutionen mangelt es einfach an Mut.
Wie sollte die EU denn kommunizieren?
Manchmal frage ich britische Bürger, welche EU-Gesetze für sie besonders problematisch sind. Darauf können sie mir nie eine Antwort geben, weil die Entscheidungen in Brüssel legitim und meist richtig sind. Dank der EU hat sich zum Beispiel die Qualität des Badewassers in vielen Ländern, die im Sommer vor britischen Touristen nur so strotzen, dramatisch verbessert. Und wenn die EU Projekte zur Abwasserwirtschaft auf dem Balkan fördert, dann ist das für alle von Vorteil. Warum gibt es dafür keine Aufklärungskampagnen?
Wie sehen Briten Ihrer Meinung nach die EU?
Sie verstehen nicht, was die führenden EU-Politiker treiben. Niemand weiß, wer die Entscheidungen fällt, denn es gibt einfach zu viele von ihnen. Europa wurde auf undurchsichtige Weise errichtet und ist daher unverständlich geworden. Ich weiß nicht wirklich, welche Funktion der Kommissionspräsident hat, dabei sollte die EU mir das eigentlich verständlich machen.
Sind die Briten mit dem Brexit zufrieden?
Viele sind nicht wählen gegangen. Einige haben ihre Meinung inzwischen geändert. Daher denke ich, das Votum würde heute anders ausfallen. Aber dafür ist es jetzt zu spät. Theresa May mangelt es an Glaubwürdigkeit. Sie wurde nicht vom Parlament gewählt, sondern von ihrer Partei nominiert. Wenn so etwas in Großbritannien passiert, geht es meistens schief. Die Menschen treffen lächerliche Entscheidungen. Boris Johnson zum Außenminister zu machen, ist doch für ihn eher wie eine Strafe. Überall hasst man ihn. Das Problem ist, dass die Labour-Partei keine gefestigte Spitze hat. Ansonsten könnte sie an die Wähler appellieren und gewissermaßen eine Alternative bieten. Großbritannien wird sich auf Artikel 50 berufen und austreten – ob die EU nun auf die Verhandlungen vorbereitet ist oder nicht. Ich denke, dass die Europäer jetzt auf Rache aus sind. Der Prozess hat schon begonnen: Bei den Ausschreibungen ignorieren die europäischen Institutionen britische Angebote bereits. Man wird das Land sehr schnell an den Rand gedrängt haben.
Die EU hat doch aber nichts davon, wenn Großbritannien geschwächt wird – eher im Gegenteil.
Ja natürlich, aber Großbritannien braucht die EU viel dringender als die EU Großbritannien. Die Hälfte unserer Exporte geht an die EU. Das Vereinigte Königreich hingegen ist keine tragende Säule des EU-Exportmarktes. Das Referendum hat für komplette Anarchie gesorgt.
Glauben Sie, dass sich der Brexit auch auf die französische Politik auswirken wird?
Das wird er ganz bestimmt. Brexit stärkt die anderen Anti-Einwanderungsparteien in Europa. Seit dem Referendum ist der Front National stärkste politische Kraft in Frankreich. Dazu muss ich jedoch auch sagen, dass Frankreich keine wirklich herausragende politische Klasse hat. Ein Wirtschaftsminister wie Emmanuel Macron, der zurücktritt, um für seine Präsidentschaftskandidatur zu werben, ist nichts weiter als ein Opportunist. So etwas würde in Großbritannien nicht passieren.
Wie erklären Sie sich diesen Unterschied?
In Frankreich sind Politiker wie Stars. Journalisten sind ihnen gegenüber geradezu unterwürfig. Das halte ich für ein ernstes Problem. Immer stellen sie Fragen wie: „Herr Minister, erklären Sie uns doch bitte, warum Sie so ein Genie sind.“ Sie fassen sie mit Samthandschuhen an. Ich verstehe auch einfach nicht, warum ein ehemaliger Minister wie Arnaud Montebourg dauernd nach seiner Meinung über alles und jeden gefragt wird. Und warum muss ein Präsident in einem Palast leben und von den Tellern Ludwigs XVI speisen?
Übersetzung: Jule Zenker
Erschienen bei EurActiv.
Das europapolitische Onlinemagazin EurActiv und der Tagesspiegel kooperieren miteinander.
Aline Robert