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Wenn der Anfang gleich schon das Ende ist: In Deutschland entscheidet die Herkunft viel zu oft über den künftigen sozialen Status.
© picture alliance / dpa

Kinderarmut in Deutschland: Das realitätsfremde Gerede von der Chancengleichheit

Arm bleibt arm, so ist es schlimme Tradition - dabei sollte der Staat für Aufstiegschancen sorgen. Es muss endlich in Brennpunktschulen investiert werden. Ein Kommentar.

Auf dem Territorium der Armut machen Politiker selten Station. Es wohnen dort zwar Millionen, über deren Los die politische Klasse mitentscheidet, doch so richtig lohnend sind die Besuche in den Gefilden nicht. Was wäre da schon zu entdecken?

Wohnburgen mit Satellitenschüsseln an den Fassaden und wildem Müll an den Rändern der Straßen, viel Unmut, wenige, die wählen gehen, viele, viele Leute, die „Transferleistungen“ erhalten, manche seit Generationen. Besucht werden dort offiziell allenfalls ein paar Vorzeigeprojekte, mildtätige Suppenküchen oder schmucke Jugendzentren – soziale Reparaturwerkstätten en miniature.

Ich kann Ihnen sagen, ich weiß, wie Hochhaus riecht, denn ich bin dort aufgewachsen!“ So versicherte Nicola Beer, Generalsekretärin der FDP, Ende April auf dem Bundesparteitag. In Frankfurt am Main hat sie ein gutes Gymnasium besucht, Jura studiert, Parteikarriere gemacht. Na bitte, geht doch! Das sagt diese Karriere, in deren Lauf der Geruch sich verflüchtigen durfte. Na bitte! Leistung zählt, nicht Herkunft, Hochhaus, Hintergrund.

Die Statistiken allerdings verraten rasch, wie selten ihr Fall und wie häufig der andere Fall ist, die weitergereichte Armut.

Neuerdings wird oft auf Kinderarmut hingewiesen (worunter man früher verstand, dass wenige Kinder geboren werden). Doch „Kinderarmut“ gibt es nicht. Es gibt arme Volljährige, die das Sorgerecht für Minderjährige haben, und „Kinderarmut“ ist nichts anderes, als die mit Kindern geteilte Armut von Erwachsenen. Bei der vertikalen Mobilität, also dem Aufstieg aus unteren in obere Milieus, liegt Deutschland laut OECD weit hinten, auf einer Höhe mit Portugal, auf Platz 21 in Europa.

Chancengleichheit gibt es in Duisburg-Marxloh oder Hamburg-Billbrook nicht

Kinder können nichts dafür, ob sie in einem Brennpunktviertel wie Berlins Falkenhagener Feld zur Welt kommen, in Köln-Ehrenfeld, in Duisburg-Marxloh, in Billbrook in Hamburg.

Kinder können nichts für die Verhältnisse, in die sei hineingeboren werden. Sie können nichts dafür, dass die viel beschworene Gleichheit der Chancen von Tag eins ihres Lebens an inexistent ist. Denn es ist ein Unterschied, ob ein Sohn oder eine Tochter ein Zuhause mit Garten, Klavier und Bibliothek erlebt, Ferien am Meer, Diskussionen beim Abendessen, private Nachhilfe bei Schulschwächen, oder ob die Satellitenschüssel den Blick auf das Draußen verstellt, der Fernseher pausenlos läuft, in Wortfetzen geredet und Ferien auf dem verdreckten Spielplatz nebenan verbracht werden.

Solange die Milieus sich nicht nur finanziell, sondern atmosphärisch derart drastisch unterscheiden, hat staatlich finanzierte Bildung für die angestrebte Bedarfsgerechtigkeit den zentralen, den allerwichtigsten Auftrag in der Demokratie. Deshalb forderte der frühere nordrhein-westfälische Ministerpräsident Wolfgang Clement unlängst im Deutschlandfunk mindestens 20.000 zusätzliche Lehrer – und ein Ende des dysfunktionalen Bildungsföderalismus. Schulen, sagte er auch, sähen teils so aus, „dass man schon Depressionen bekommt, wenn man nur durch den Eingang geht“.

Von Kindergeld profitieren auch Vermögende - muss das sein?

Kein Zweifel, so ist das. Auf der Bildungsbaustelle müssten die öffentlichen Ausgaben weit über die heute rund 130 Milliarden Euro im Jahr hinauswachsen. Doch allein das Kindergeld verschlingt jährlich mehr als 30 Milliarden Euro. Ob Eltern tausend oder achttausend Euro im Monat haben oder ob sie zu den 1,2 Millionen Millionären im Land gehören: Alle kassieren es. Stur schüttet es die Staatsgießkanne aus.

Kindergeld – wie in Kanada oder Australien – vom Einkommen abhängig zu machen, wäre vermutlich politisch im Moment kaum durchsetzbar. Doch nicht mal freiwilliges Ablehnen der Zahlung ist bisher möglich. Bürokratische Hürden seien unüberwindbar, berichtete einmal im persönlichen Gespräch ein sozialdemokratischer Unternehmer, der staatliche Leistungen für sein Kind nicht in Anspruch nehmen wollte. Er gab auf. Es ging nicht. So etwas war schlicht nicht vorgesehen.

Probieren ließe sich jedoch, mit minimalem Aufwand, ein Testlauf. Über einen simples Formular-Download von der Website des Bundesfinanzministeriums könnten Wohlhabende ihren Antrag zum Verzicht aufs Kindergeld stellen. Nach ein, zwei Jahren wüsste man, ob damit einige Milliarden gespart würden. Ein erster Schritt zur einkommensabhängigen Zahlung wäre damit versucht, und das an der Gießkanne Gesparte kann in Kitas und Schulen investiert werden, überall da, wo auch mäßig begabte oder hochbegabte Hochhauskinder fürs Leben lernen.

Caroline Fetscher

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