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Eine Frau an den Gräbern für die Toten von Butscha.
© IMAGO/NurPhoto

Wie die Beweissuche läuft: Das Puzzle von Butscha – einem Kriegsverbrechen auf der Spur

Satellitenbilder, Munitionsfunde, Obduktionen, Überlebenden-Berichte: Spezialisten versuchen, Beweise für die Anklage zu sammeln. Wie gehen sie dabei vor?

Es ist ein Puzzle, das die russischen Darstellungen von Falschinformationen widerlegen soll. Außenminister Sergej Lawrow nennt die hunderten getöteten Zivilsten von Butscha eine „Inszenierung durch die Ukraine, um Russland zu schaden“. Schon im Ersten Weltkrieg hieß es: „Im Krieg ist Wahrheit das erste Opfer.“ Doch wie lässt sich die Schuldfrage gerichtsfest rekonstruieren?

Einen wichtigen Ansatzpunkt bietet im 21. Jahrhundert die Auswertung von Satellitenbildern. Demnach haben viele Leichen bereits lange vor dem Abzug der russischen Truppen dort gelegen. Die hochauflösenden Bilder „bestätigen die jüngsten Videos und Fotos in den sozialen Medien, auf denen Leichen zu sehen sind, die seit Wochen auf der Straße liegen“, sagt ein Sprecher der US-Satellitenbildfirma Maxar Technologies.

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Die „New York Times“ verglich die Satellitenbilder mit diversen Aufnahmen von ukrainischen Beamten und internationalen Medien und bestätigte, dass einige der Leichen sich bereits drei Wochen vor dem russischen Abzug in der gezeigten Position befunden hatten, bevor sie vor wenigen Tagen von ukrainischen Soldaten nach der Rückeroberung entdeckt wurden.

„Die Leichen lagen da, die haben die Ukrainer nicht für die Presse da hingelegt“, steht damit für den Direktor von Human Rights Watch Deutschland, Wenzel Michalski, schon einmal fest.

„Alles deutet darauf hin, dass die Opfer absichtlich ins Visier genommen und direkt getötet wurden", sagt auch die Sprecherin des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte. Das humanitäre Völkerrecht verbiete bei bewaffneten Konflikten aber absichtliche Angriffe auf Zivilisten - das käme einem Kriegsverbrechen gleich. Auch UN-Experten sollen hierhin reisen.

Wenzel Michalski, Direktor von Human Rights Watch Deutschland, seine Organisation ist an der Beweissuche in Butscha beteiligt.
Wenzel Michalski, Direktor von Human Rights Watch Deutschland, seine Organisation ist an der Beweissuche in Butscha beteiligt.
© Carsten Koall/dpa

Bei der Suche nach den Tätern berichtet zudem die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" unter Verweis auf ukrainische Quellen von wichtigen Indizien: Demnach würden Packzettel in Munitionskisten daraufhin deuten, dass in Butscha auch eine Einheit des russischen Militärs im Einsatz war, die mutmaßlich schon bei der Annexion der Krim dabei war.

Auf den Packzetteln, die auf einem aufgegebenen Stützpunkt der russischen Truppen in Butscha gefunden worden seien, sei die Militäreinheit 74268 angegeben. Dahinter verberge sich das 234. russische Garde-Fallschirmjägerregiment. Es gehört zu einer Division aus Pskow im Nordwesten Russlands.

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Michalski betont im Gespräch mit dem Tagesspiegel, dass Butscha als ein großer Tatort gesehen werden müsse, die Organisation ist mit einem Mitarbeiter vor Ort. Es gehe um die Auswertung und Dokumentation von Bildern, Befragung von möglichen Zeugen, auch mit den Gerichtsmedizinern suche man das Gespräch. „Wir haben zudem einen Open-Source-Spezialisten, der vielen Bilder in sozialen Medien auswertet. Sie belegen, ob das, was da erzählt wurde, wirklich sich so zugetragen hat oder nicht.“

Die Organisation hatte vor dem Bekanntwerden der Gräuel in Butscha einen ersten Bericht zu möglichen Kriegsverbrechen in der Ukraine veröffentlicht, das bezog sich auf die Zeit vom 27. Februar bis zum 14. März. „Da konnten wir zeigen, dass Butscha kein Einzelfall ist, sondern dass sich solche Grausamkeiten wohl auch woanders ereignet haben.“

Ein Problem sei das Verscharren der Leichen in Massengräbern. „Es ist ja nicht zu vermeiden“, sagt Michalski. Wichtig sei aber, dass diese Massengräber „abgeschirmt werden vor Leuten, die darüber trampeln, damit zum Beispiel Fachleute einer internationalen, unabhängigen Untersuchungskommission, noch Obduktionen durchführen können, dass keine Beweise zerstört worden sind". Entscheidend sei, dass alles sehr gut und glaubwürdig dokumentiert werden kann.

Nur gerichtsfeste Fälle werden dokumentiert

Es sei letztlich wie mit jedem Tatort, Fotos würden gemacht, Forensiker hinzugezogen. Seine Organisation arbeite vor Ort mit anderen Gruppen zusammen. „Wir tauschen Informationen aus, um ein ganzheitliches Bild zu bekommen, was wirklich passiert ist.“ Zudem gehe es darum, Tatzeiten einzugrenzen, auch mit zurückgelassenem Material Hinweise auf Täter und ihre Herkunft zu bekommen, eben etwa durch Munitionskennungen.

Letztlich würden aber nur Fälle dokumentiert, die wirklich gerichtsfest seien, auch wenn die tatsächliche Opferzahl höher sei, betont Michalski. „Deswegen kommt es auch manchmal vor, dass wir von einem Ort berichten, an dem, sagen wir mal, 350 Leichen gezählt worden sind, wir uns aber nur auf 10 beziehen.“

Fotografen an einem Massengrab in Butscha, 25 Kilometer nordwestlich von Kiew.
Fotografen an einem Massengrab in Butscha, 25 Kilometer nordwestlich von Kiew.
© IMAGO/NurPhoto

Es werde nur veröffentlicht, „was sehr seriös ist und was wir dann als Quelle für Medien, Justizbehörden und Strafverfolgungsbehörden zur Verfügung stellen“. Wo solche Verbrechen verhandelt werden, hänge davon ab, wo Anklage erhoben wird, hier komme der Internationale Strafgerichtshof in Frage, dessen Chefankläger auch Leute in die Ukraine geschickt habe.

Darunter seien Ermittler, die zum Teil auch in Ruanda und in Kolumbien bereits Erfahrungen gesammelt haben und nun Beweise für den Chefankläger suchen, betont Michalski.

Natürlich werde auch versucht, die russische Seite zu befragen, nach dem Motto, hier haben wir sehr starke Hinweise, dass ein Kriegsverbrechen passiert ist, wissend, dass sie kaum kooperieren werden. „Aber wenn ich ein Kommandant bin und meine Soldaten begehen Kriegsverbrechen und ich mache nichts, dann mache ich mich der Komplizenschaft mit schuldig. Und insofern wird das auch irgendwann mal relevant.“

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