Wende zum Besseren?: Das missverstandene Jahr 1989
Was, wenn nicht der Mauerfall in Deutschland, sondern das Massaker auf dem Tiananmen-Platz in Peking das prägende Vorzeichen war? Ein Essay.
- Thomas Kleine-Brockhoff leitet das Berliner Büro des German Marshall Fund of the United States. Von 2013 bis 2017 war er im Bundespräsidialamt Leiter des Planungs- und
Redenstabes von Bundespräsident Joachim Gauck. Am 23. September erschien von ihm "Die Welt braucht den Westen. Neustart für eine liberale Ordnung" (Edition Körber).
Dreißig Jahre nach dem Mauerfall und dem Kollaps des Sowjetkommunismus wächst die Erkenntnis, dass manche Zukunftshoffnung wohl nur Wunschdenken war und mancher Optimismus vielleicht nur Triumphalismus. Aus den friedlichen Revolutionen von 1989 ist jedenfalls kein Zeitalter der freien und gleichen Demokratien entstanden. In den Worten des Mainzer Historikers Andreas Rödder stehen wir in der westlichen Welt heute „vor den Trümmern unserer Erwartungen“.
Weil die erwartungsfrohe Kunde vom kommenden demokratischen Weltfrieden an der Realität zerschellt ist, lohnt es sich, den Irrtümern jener Zeit nachzuspüren – schon um ähnliche Fehleinschätzungen in Zukunft zu vermeiden. Denn die Tendenz anzunehmen, dass das, was heute ist, auch morgen gilt, ist so verbreitet wie ehedem.
Als fahre Geschichte auf Eisenbahnschienen
Glaubt man den Schwarzsehern unserer Tage, dann ist der Westen tot, Amerika verloren und die liberale internationale Ordnung moribund; die Welt bewegt sich gleichsam unabänderlich hinein in ein neues Zeitalter von Autokratie und Nationalismus. Ganz so, als fahre die Geschichte auf Eisenbahnschienen immer nur in eine Richtung, und Menschen sei die Weichenstellung verwehrt. Doch das ist, damals wie heute, ein Kurzschluss, eine Folge linearen Denkens: Vom Ende der Geschichte zum ewigen Populismus – binnen 30 Jahren von einem Determinismus zum nächsten.
Ausgangspunkt einer Reihe von Fehleinschätzungen ist die allzu selbstgefällige Interpretation der Zeitenwende von 1989. Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft verwandelte sich alsbald in eine Gewissheit über den Gang der Geschichte. So entstand eine liberale Überdehnung: eine Welt, in welcher der Glaube an eine glorreiche demokratische Zukunft verbreitet und die Ansprüche gewaltig, aber Wille, Mittel und Möglichkeiten zur Durchsetzung von Zielen begrenzt waren. Es war eine Welt, die allenfalls noch Terroristen als Gegner kannte und stattdessen überall Partner wähnte, die auf dem Weg waren, gleichgesinnte Freunde zu werden.
Im Schutze eines liberalen Hegemonen und Garanten der freiheitlichen Regeln der internationalen Ordnung ließ sich mühelos übersehen, dass es auf der Welt Spieler gab, die nur so taten als seien sie Mitspieler. Wie etwa Russland, das nur anfangs auf dem Weg nach Westen zu sein schien. Manche Entwicklung in Mittel- und Osteuropa wird man heute ebenfalls neu bewerten wollen. Dasselbe gilt für China.
Die Sino-Optimisten haben viel ausgeblendet
Wie kein anderes Land repräsentiert die Volksrepublik die unerfüllte Hoffnung auf Angleichung. Seit 1978 die Reformpolitik begann, vertrauten sieben amerikanische Präsidenten und vier deutsche Bundeskanzler auf die subversive Kraft der Marktwirtschaft: Handel schafft Wandel, auf Öffnung folgt Freiheit.
In der Rückschau wird man die Verantwortlichen jener Jahre nicht für ihren Versuch tadeln wollen, die Kooperation der Konfrontation vorzuziehen und dabei vom riesigen chinesischen Wachstumsmarkt zu profitieren. Vorzuhalten ist den Sino-Optimisten aber, dass sie zu viel ausgeblendet haben, was nicht ins eigene Weltbild passte. Verzögerungen, Auslassungen, Rückschläge bei der Reformpolitik – das schienen nur Indizien dafür zu sein, dass China noch nicht reif war für den nächsten Schritt auf dem Weg gen Westen. Ein bisschen mehr Zeit, ein bisschen mehr Kompromissbereitschaft, ein bisschen mehr Toleranz seitens des Westens – und irgendwann würde China bereit sein für die nächste Reformphase.
Diese Interpretation hatte etwas Hermetisches. Was immer China tat, es fand seinen Platz in der eigenen Theorie des Wandels, die dadurch kaum widerlegbar war. Gerade darin aber besteht die Schwäche des unverbrüchlichen Glaubens an die Überlegenheit von Marktwirtschaft und Demokratie: Sie erzeugt einen Tunnelblick. Und die Grenze zwischen Optimismus und Determinismus zerfließt. Dass die Parteiführung Chinas ganz andere Ziele verfolgen mochte – das war in dieser selbstgewissen Gedankenwelt nicht vorgesehen.
30 Jahre später wird das Undenkbare denkbar
Der gravierendste Irrtum ist die Bewertung der Zeitenwende von 1989. Dem westlichen Narrativ zufolge wurde Geschichte in Berlin geschrieben, wo die Mauer fiel, nicht in Peking, wo die Panzer rollten. Die gewaltsame Niederschlagung der chinesischen Demokratiebewegung 1989 schien eine Verirrung zu sein, ein hilfloser Aufstand gegen die Kräfte der Weltgeschichte, die das Ende von Planwirtschaft und Autokratie vorsahen.
Folglich glaubten viele im Westen, dass sich die Führung in Peking besinnen und wieder auf einen Liberalisierungskurs einschwenken werde. Dafür gab es zunächst auch Indizien. Heute erweist sich diese Erwartung aber vor allem als Mangel an Vorstellungskraft. 30 Jahre nach dem Massaker von Tiananmen-Platz wird das Undenkbare denkbar: dass nämlich das wichtigste Ereignis des Jahres 1989 nicht der Fall der Berliner Mauer gewesen sein könnte, sondern die Niederschlagung des chinesischen Volksaufstandes.
Die Mehrheit der westlichen Interpreten wollte bloß lange Zeit den Gedanken nicht zulassen, die chinesische Führung habe 1989 keineswegs einen Fehltritt begangen, sondern klaren Sinnes beschlossen, die Herrschaft nicht zu teilen und schon gar nicht abzugeben. Aus heutiger Sicht war es eine generationelle Entscheidung, die – nach einigen liberalisierenden Abwegen – vom Diktator Xi Xinping zementiert wurde. Diese Erkenntnis hätte freilich den unerwünschten Befund zur Folge gehabt, dass das Reich der Mitte keineswegs dem Reich des demokratischen Friedens beitreten wird.
Die Deutschen pflegten eine lineare Erwartung an das Kommende
Ähnlich hoffnungsschwanger war die westliche Interpretation der russischen Entwicklung nach 1989. Schritt um Schritt würden Reformen das Land modernisieren und näher an den Rest Europas heranrücken. Der Siegeszug des westlichen Modells würde die Russen mitreißen. Abweichungen vom rechten Wege müssten mit Verständnis und Geduld begegnet werden. Wie tief dieses Denkmuster sitzt, zeigt, dass selbst ein paar russische Militär-Interventionen später viele nicht glauben mögen, dass es sich nicht um Rückschläge handelt, sondern dass die Moskauer Führung etwas ganz anderes im Sinn hat: die Wiederherstellung großer Teile einer historischen Einflusszone. Seinen Widerstand gegen die „monopolare Welt“ und gegen die „Vereinigten Staaten, die ihre Grenzen in allen Sphären überschreiten“ würden, hat Russlands Autokrat Putin sogar öffentlich angekündigt, mitten in Deutschland, und zwar bei der Münchener Sicherheitskonferenz 2007. Man muss nur zuhören wollen.
Die Irrtümer von 1989 machten auch vor Mittel- und Osteuropa nicht halt. Es galt als sicher, dass die Länder des ehemaligen Warschauer Paktes dauerhaft im Hafen der liberalen Demokratie festmachen würden. Deshalb wurde der Beitritt dieser Staaten zu Nato und Europäischer Union überhaupt erst denkbar. Die Macht des Narrativs vom demokratischen Frieden war so stark, dass es fast 30 Jahre dauerte, bis eine andere Interpretation der Ereignisse von 1989 auch nur ernst genommen wurde: dass nämlich 1989 in diesen Staaten nicht zuvörderst ein Triumph westlicher Werte war, sondern primär eine „Revolution der nationalen Emanzipation“ – also eine Befreiung der kleineren Nationen vom Sowjetimperialismus. So beschreibt es Branko Milanovic, der ehemalige Chefvolkswirt der Weltbank.
Das "Liberale" der Demokratie sahen viel skeptisch
Seit Jahrhunderten hatten die Mittel- und Osteuropäer für Nationalstaaten in ethnisch homogenen Siedlungsgebieten gefochten. In drei Schritten (1918, 1945 und 1989) waren diese Staaten schließlich entstanden. Marktwirtschaft und Demokratie mochten die Bürger nach 1989 gern akzeptieren, weil beides als Voraussetzung der Prosperität galt; genauso den Nato-Beitritt, weil der Sicherheit vor Russland verhieß. Ethnische Heterogenität, Minderheitenschutz und damit den „liberalen“ Teil der Demokratie, sahen nicht wenige aber angesichts der Gründungsgeschichte ihrer Staaten skeptisch. Durch die einseitige Deutung von 1989 wird Europas west-östliche Kontroverse über die Flüchtlingsaufnahme nach 2015 jedenfalls besser erklärbar.
Selbst eingefleischte Nationalisten, schreibt Milanovic, sprachen 1989 „die Sprache der Demokratie“, weil sie dadurch „für große Ideale zu kämpfen schienen, nicht für kleinkarierte ethnische Interessen“. In dieser Gruppe finden sich Viktor Orbán und Jaroslaw Kaczynski, heute die starken Männer Ungarns und Polens. Ihr Wandel von Freiheitskämpfern zu antiliberalen Nationalisten wird so nachvollziehbar. Viel Wandel war da nämlich nicht. Sie sahen in der liberalen Demokratie niemals das politische System ihrer Träume; es war eine Wahl aus Zweckmäßigkeit. Die Zahl der Unterstützer einer liberalen Weltaneignung schien in Mittel- und Osteuropa nach 1989 nur deshalb so groß zu sein, weil sie sich in einem Bündnis mit national gesinnten Kräften befanden.
Zur Abwechslung auf der richtigen Seite
Die Wellen, die das annus mirabilis 1989 im Westen auslöste, sind heute verebbt und mit ihnen der Glaube an die eigene Kraft. Kaum ein Land tut sich mit dieser Wende der Weltläufe schwerer als Deutschland, und zwar nicht nur, weil kaum ein Land seit 1989 so sehr vom status quo profitiert. Der Fall der Mauer war für Deutschland mehr als ein glücklicher Moment, der die nationale Einheit in Freiheit und Demokratie ermöglichte. Deutschland stand zur Abwechslung auf der richtigen Seite der Geschichte. Und die Geschichte schien sich der liberalen Demokratie zuzuneigen. Wie der Diplomat Thomas Bagger nachgezeichnet hat, schien Politik nur noch die Aufgabe zu haben, den unausweichlichen Gang der Geschichte zu begleiten und diesen ebenso wünschenswerten wie „unveränderbaren Prozess zu verwalten“. Großer Entscheidungen bedurfte es unter diesen Umständen nicht. Vieles würde sich ganz von selbst in die richtige Richtung entwickeln.
Deutschland war umzingelt von Freunden. Es war nicht mehr zu groß für Europa, jedenfalls nicht für das gemeinsame Europa der EU, und nicht mehr zu klein für die Welt, jedenfalls nicht für die Nato-Welt. Die deutsche Frage schien gelöst; sie hatte sich geradezu aufgelöst im demokratischen Frieden. Die glückliche Nation konnte nun nach Herzenslust Friedensmacht sein, sich dem Geschäftemachen und dem Sozialstaatsausbau widmen. Nicht Deutschland würde sich ändern und anpassen müssen, andere würden das tun müssen: Mittel- und Osteuropa, Russland, China, irgendwann der Nahe Osten.
Wenn Menschen aber davon ausgehen, dass alles gut wird, egal, wie sie handeln, dann fehlt, wie der Yale-Historiker Timothy Snyder schreibt, der „Sinn für Verantwortung“. Genau das ist das deutsche Problem, das sich während der glücklichen Jahre nach 1989 herausgebildet hat.
Schon wieder dieser Geist der Passivität
Verantwortung haben die Deutschen überwiegend in jenen Feldern internationaler Politik übernommen, die innenpolitisch populär waren und dem eigenen weichgezeichneten Selbstbild entsprachen. Gemeinhin übernahm die Bundesrepublik „einen Beitrag“ zur Lösung eines Problems, oft nur einen kleinen. Größere Entschiedenheit war ja auch gar nicht sinnvoll, da die Welt und ihre Probleme ohnehin zu groß waren für das kleine Deutschland und anderen, allen voran den Vereinigten Staaten, weit größere Mittel zur Verfügung standen.
30 Jahre lang pflegten die Deutschen ihre lineare Erwartung an das Kommende. Ihre Zukunftswünsche schienen glücklich mit dem Gang der Geschichte zu harmonieren. Nun, da es der Geschichte beliebt, eine andere Richtung einzuschlagen, wähnt man sich offenbar erneut in der Hand ebenjener Geschichte. Warum plötzlich glauben, man könne die Zeitläufte beeinflussen, ja, ihren Kurs ändern? Warum annehmen, das eigene Gewicht machte einen Unterschied? Warum nun plötzlich Handlungsmacht und Handlungsverpflichtung annehmen?
So wird erklärlich, warum die Annahme in Deutschland so verbreitet ist, man sei nun einer neuen, von Trumps Amerika geprägten Ära ausgeliefert. Und dieser neue Mainstream des Nationalismus werde den politischen Westen und die liberale internationale Ordnung hinfort spülen – so als sei das alles unvermeidbar und vorgezeichnet und nicht beeinflussbar durch eigenes Handeln; so als sei der Versuch zum Scheitern verurteilt, gerade im Moment der nationalistischen Versuchung mehr Westen zu produzieren statt nur Westen zu sein. In diesem Geist der Passivität spiegelt sich neuerlich eine lineare Zukunftserwartung, nur diesmal nicht als Glücksverheißung, sondern in Form einer Jeremiade über die Zukunft.
Thomas Kleine-Brockhoff