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Erdem Gündüz, der "Schweigende Mann"
© Vassil Donev/epa-dpa

Türkei: Das laute Schweigen auf dem Taksim-Platz

Die neueste Protestform in Istanbul: Einfach nur stehen und nichts sagen. Auch dafür kann man verhaftet werden. Aber die Demonstranten hatten schon Erfolg: Das Bauprojekt im umkämpften Gezi-Park ist endgültig auf Eis gelegt.

Nach all den lärmenden Demonstrationen, dem Heulen der Polizei-Sirenen und dem Getöse der Straßenschlachten fordert nun schweigender Protest die türkische Regierung heraus. Der Tänzer Erdem Gündüz begann am Montagabend auf dem Istanbuler Taksim-Platz, dem Ort schwerer Auseinandersetzungen in den vergangenen Tagen, mit einer Aktion, die innerhalb von Stunden im Internet unter dem Namen „Stehender Mann“ bekannt wurde: Gündüz, 34, stellte sich auf den Taksim und tat – nichts. Mehrere Stunden stand er einfach nur da, Hände in den Hosentaschen, und schaute geradeaus. Die Polizisten, die den Taksim seit der Räumung des benachbarten Gezi-Parks am vergangenen Samstag bewachen und dort neue Demonstrationen verhindern sollen, standen vor einem Rätsel. Schweigend herumzustehen ist schließlich nicht verboten. Die Beamten durchsuchten die Kleidung und die Tasche von Gündüz nach möglichen Waffen oder Bomben – nichts. Gündüz blieb stehen und starrte in die Ferne. Die Beamten gingen wieder. Doch im Laufe des Abends gesellten sich immer mehr „Stehende Männer“ und Frauen zu Gündüz, auch in anderen Teilen von Istanbul und anderen türkischen Städten tauchten sie auf. Am Taksim wurde es der Polizei in der Nacht zum Dienstag zu bunt: Sie nahm mehrere Menschen fest. Doch der „Stehende Mann“ war da schon verschwunden. Seine Anhänger wollen weitermachen.

„Das hätte ich nicht erwartet“, sagte Gündüz am Dienstag dem Tagesspiegel. Das Echo, das seine Aktion ausgelöst hat, freut ihn, auch wenn er sich selbst nicht mehr daran beteiligen will. „Für mich war’s das.“ Aber auch ohne den ersten „Stehenden Mann“ dürfte sich die neue Protestform weiter verbreiten. Im Internet werden die Türken aufgerufen, jeden Abend um acht fünf Minuten dort stehen zu bleiben und zu schweigen, wo sie gerade sind. Auf Twitter sprach Gündüz von einer stillen Stimme des Protests gegen die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan. Anhänger des Premiers wittern eine finstere Verschwörung: Der „Schweigende Mann“ gehöre zu den Taktiken des US-Geheimdienstes CIA bei der Anzettelung von Aufständen, twitterten einige Regierungsanhänger.

Für die türkische Protestbewegung kommt der neue Schwung durch Gündüz wie gerufen. Sie hat seit der Räumung des Gezi-Parks durch die Polizei am Samstag ihr Hauptquartier und einen Teil ihres Schwungs verloren. Auch der anhaltende Druck der Behörden macht den Erdogan-Gegnern zu schaffen: Am Dienstag nahm die türkische Antiterror-Polizei 85 mutmaßliche Mitglieder von zwei kleinen linken Gruppen fest, die an den Gezi-Protesten beteiligt gewesen sein sollen. Schon am Wochenende waren in Istanbul und Ankara nach Angaben der Anwaltskammer rund 500 Menschen in Gewahrsam genommen worden. Menschenrechtler sprechen von einer „Hexenjagd“. Krankenhäuser sollen von der Regierung aufgefordert worden sein, die Daten verletzter Demonstranten zu übermitteln. Immerhin konnte die Protestbewegung am Dienstag einen Erfolg feiern. Staatspräsident Abdullah Gül sagte, das ursprünglich von der Regierung im Gezi-Park geplante Bauprojekt liege endgültig auf Eis.

Unterdessen sucht die Gezi-Park-Bewegung nach neuen Zielen, Inhalten und Strukturen. Eine politische Partei werde es wohl nicht geben, sagte Ongun Yücel, Sprecher der „Taksim Solidarität“, einer Dachorganisation für mehrere Protestgruppen. Möglich sei die Gründung eines Verbandes, aber entschieden sei nichts. Nur eines stehe fest, sagte Yücel dem Tagesspiegel: „Es ist nicht vorbei. Die Proteste werden weitergehen, vielleicht in anderen Formen.“ Andere Anhänger der Protestbewegung betonten ebenfalls, auch nach dem Sturm auf den Gezi-Park werde die Bewegung weitermachen.

Erdogan kündigte ein weiter hartes Vorgehen gegen jede Art von gewalttätigem Protest an. Die Polizei soll nach seinen Worten besser ausgestattet werden – was aber gegen Aktionen wie der des „Stehenden Mannes“ nicht viel hilft. Innenminister Muammer Güler versicherte am Dienstag, die Polizei werde „Stehende Männer“ und Frauen in Ruhe lassen, so lange sie nicht die öffentliche Ordnung störten. Dennoch wurden mehrere Demonstranten auf dem Taksim festgenommen. Am Nachmittag versammelten sich dort trotzdem wieder mehrere Dutzende schweigende Demonstranten.

Thomas Seibert

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