Tunesien: Das Land wählt einen neuen Präsidenten
Ein 88-jähriger Politikveteran gilt im Rennen um das Präsidentenamt in Tunesien als Favorit. Bei der Stichwahl könnte es aber eine Überraschung geben. Denn sein Gegner hofft auf die Stimmen einer mächtigen Gruppe.
„Wir sind arbeitslos, warum sollen wir so früh aufstehen?“ stänkert Younes herum. „Wir haben 2011 die Revolution gemacht, die Politiker haben sich nur selbst bedient, unser Leben aber hat sich keinen Deut verbessert.“ Er ist 24 Jahre alt, arbeitslos, lebt in einem Trabantenviertel von Tunis, wo er am Nachmittag mit einem Dutzend andere junger Männer in einem Café herumlungert. Younes will nicht zur Wahl gehen, obwohl sich am kommenden Sonntag entscheidet, wer das schwankende tunesische Staatsschiff in den nächsten fünf Jahren als Präsident steuern wird. „Stimmt nicht, es hat sich vieles verbessert“, geht ein anderer aus dem Kreis dazwischen. Er fühle sich heute als echter Bürger, der frei seine Meinung sagen könne und dessen Stimme zähle, kontert Mohamed, der sich als fliegender Händler über Wasser hält.
IS fordert Einführung der Scharia
Doch alle sind sich einig – die 15 Prozent Arbeitslosigkeit, die stotternde Wirtschaft, die steigenden Preise und die Terrorgefahr sind die brennenden Probleme, die Tunesien beschäftigen. 3000 junge Tunesier kämpfen inzwischen an der Seite des „Islamischen Staates“. Letzte Woche veröffentlichten sie eine Videobotschaft, in der sie sich zu den beiden spektakulären Morden 2013 an den Linkspolitikern Chokri Belaid und Mohamed Brahmi bekannten. „Ihr werdet kein ruhiges Leben mehr haben, wenn in Tunesien nicht die Scharia eingeführt wird“, drohte einer der Gotteskrieger seinen Landsleuten daheim und rief sie auf, die Wahl am Sonntag zu boykottieren.
Veteran gegen Aufsteiger
Im Finale um die Präsidentschaft stehen sich gegenüber der 88-jährige Polit-Veteran Beji Caid Essebsi, der gleichzeitig Parteichef der säkularen Nidaa Tounes ist, sowie der zwei Jahrzehnte jüngere, noch amtierende Interimspräsident Moncef Marzouki. Beide hassen sich mit Hingabe. Essebsi verweigerte sogar ein Fernsehduell mit seinem Kontrahenten und beschimpfte Marzouki stattdessen als Extremisten. Beide hielten am Freitag auf dem Boulevard Bourguiba ihre Abschlusskundgebung, dem legendären Platz der tunesischen Jasmin-Revolution im Zentrum von Tunis. Und beide haben reelle Chancen auf den Sieg, auch wenn Essebsi bei der ersten Runde mit sechs Prozentpunkten vorne lag.
Dieser inszenierte sich gerne als erfahrener Staatsmann, der das Volk einigen, aus der Wirtschaftskrise führen und der für innere Sicherheit sorgen kann. Bereits unter Staatsgründer Habib Bourguiba war er Innen- und Außenminister, später unter Diktator Zine el-Abidine Ben Ali für eine kurze Zeit Parlamentspräsident, bevor er sich aus der Politik zurückzog. Nach dem Sturz Ben Alis übernahm Essebsi von März bis Dezember 2011 kommissarisch das Amt des Regierungschefs und organisierte damals die ersten demokratischen Wahlen für Übergangsparlament und Verfassungsgebende Versammlung.
Islamisten unterstützen Marzouki
Marzouki dagegen, der wegen seines erratischen Führungsstils umstritten ist, warb für sich als „den natürlichen Kandidaten“ der revolutionären Kräfte und als Bollwerk gegen eine Renaissance der alten Regimegarde. Der Professor für Neurologie, der stets mit offenem Hemdkragen und ohne Schlips auftritt, wird von der Muslimbruderschaft Ennahda unterstützt, die angesichts der Erfahrungen in Ägypten keinen Bewerber für das höchste Staatsamt ins Rennen schickte. Auch die Wähler der linken Volksfront, deren Kandidat in der ersten Runde als dritter ins Ziel kam, dürfte er auf seiner Seite haben. „Wir müssen unsere Träume realisieren, und ich bin der richtige Mann dafür“, beschwor Marzouki am Freitag in seiner letzten Wahlkampfrede die Zuhörer. „Seid stolz auf euer Land. Und gebt mir eine Chance, dann werde ich meinen Weg mit euch fortsetzen zum Wohle unseres Landes.“