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Es war einmal... Eine Familie versammelt sich vorm Fernseher und schaut gemeinsam, was gerade läuft. Das Foto entstand 1968.
© picture alliance / akg-images

Zukunft des Fernsehens: Das kleine Flimmern

Dass Fernsehen oft langweilig ist, ist nicht neu. Dass der Fernseher aus bleibt, aber schon. Fernsehkonsumenten, vor allem jüngere, schauen via Internet und mit neuen Geräten. Die alte Glotze ist in Gefahr.

Pah, Fernsehverbot! Das sei ihr doch egal! „Kommt ja eh nix!“, mit diesen Worten lässt die pubertierende zwölfjährige Davina ihre Mutter stehen und stapft aus dem Zimmer, nicht ohne dabei die Tür laut zuzuschlagen, was aber nicht dem Verbot zugeschrieben werden kann. Bei einer Umfrage der Krankenkasse AOK gaben 56 Prozent der Eltern an, dass als Bestrafung „Fernsehverbot“ an erster Stelle stehe. Doch im Jahre 2014, wo multiple Mediennutzung zum Jugendalltag gehört, stellt sich die Frage, ob das noch einen Zweck erfüllt.

Davinas Urgroßeltern Gretel und Walter flüchteten im Herbst 1944 mit den zwölf- und 15-jährigen Söhnen aus Schlesien. Sie packten ihr Hab und Gut auf einen Karren und zogen diesen per Hand gen Westen. Auch ein Schaukelstuhl war auf dem Karren. Darauf wollte Walter sich nach der Flucht setzen und ausruhen. In diesem Stuhl werde er eines Tages fernsehen, erzählte er Gretel, als er den Stuhl auf den Wagen stellte und festzurrte.

Eine erstaunliche Vision. Einen Fernseher besaß die Familie damals nicht, und sie wusste auch nicht, dass der Deutsche Fernsehrundfunk „Fernsehsender Paul Nipkow“ am 19. Oktober 1944 seinen Betrieb endgültig einstellte. Dass Fernsehen einmal die Macht in den Haushalten der Welt übernehmen würde, konnten sie nicht ahnen.

In den 30er Jahren kamen "Fernsehstuben" auf

Gretel hatte überhaupt noch nie einen Fernseher gesehen, sie kannte diesen Apparat nur aus Walters Erzählungen. Er war zu den Olympischen Spielen 1936 in Berlin gewesen und hatte die Direktübertragung in einer der Berliner Fernsehstuben gesehen.

Fernsehen in Deutschland fiel dann kriegsbedingt einige Jahre aus und kehrte erst ab 1952 zurück. Und Walters Traum vom eigenen Fernsehapparat ging noch viel später in Erfüllung. 1968, da war der Schaukelstuhl schon entzwei.

Auf diese Geschichten reagieren die Urenkelinnen mit verständnislosen Blicken, nicht nur Davina, sondern auch ihre Schwester Jana, 25 und angehende Geisteswissenschaftlerin: Fernsehstuben? Schwarz-Weiß-Fernsehen? Testbild? Sendeschluss? Was ist das?!

Wenn sie etwas anschauen wolle, sagt die Ältere der beiden, gehe sie online oder werfe eine Blue Ray rein! Sie könne und wolle sich nicht an die Zeiten im Fernsehen halten. Das lasse ihr Tagesablauf gar nicht zu. Sie ist damit nicht allein.

2014 sahen die Deutschen täglich durchschnittlich 194 Minuten fern

Den Nachrichten im ZDF fehlen die jüngeren Zuschauer zwischen 20 und 40 Jahren. Das Durchschnittsalter der „heute“-Zuschauer liegt deutlich über 61 Jahren.

2014 sahen die Deutschen täglich durchschnittlich 194 Minuten fern. 2011 waren es noch 225 Minuten. Ist das schon ein Abwärtstrend?

Die Generation der 60er-Jahre, zu der die Eltern der Mädchen gehören, wuchs mit dem sonntäglichen Tarzan-Jodler von Johnny Weissmüller auf; das Ganze in schwarz-weiß. Das Fernsehstandgerät in einem Echtholzschrank auf Rollen war das erste Gerät, das sich die Eltern geleistet hatten, nachdem sie mit zwei kleinen Kindern nicht mehr abends ins Kino gehen konnten. Das Gerät konnte sogar schon das ZDF empfangen, das 1963 erstmals auf Sendung ging. Da durften dann die Kinder am Sonntag einen Film sehen, „Ich Tarzan, du Jane“, und erfuhren so ganz nebenbei, dass Johnny Weissmüller 51 Weltrekorde im Schwimmen aufstellte, vielleicht auch mehr, das ist unklar, weil er es oft versäumte, die Rekordprotokolle einzureichen. Darüber unterhielten sich dann die Eltern, wenn man gemeinsam vor dem TV-Gerät saß. Und dass er aus fast 1000 Männern, die sich für die Hauptrolle im ersten Tarzan-Tonfilm beworben hatten, ausgewählt worden war.

Mit einem Knopfdruck des Vizekanzlers und vormaligen Regierenden Berliner Bürgermeisters Willy Brandt startete am 25. August 1967 auf der Deutschen Funkausstellung (später IFA) offiziell das Farbfernsehen in Deutschland. Und Walter aus Schlesien freute sich, dass er nicht früher das Geld zusammen hatte für einen Fernseher, denn jetzt gab es auch bei ihm im Wohnzimmer die Bilder in Farbe.

Damals saß man gemeinsam vor dem Fernseher, sah sich die Sendungen zusammen an, und das war ein Teil der Familienkommunikation. Die Auswahl der Sender war nicht groß, ARD, ZDF, oder einen regionalen Sender wie den NDR. Und diejenigen Kinder und Jugendlichen hatten Glück, die keinen sportbegeisterten Vater am Samstagnachmittag zu Hause hatten, der die ARD-Sportschau um 17.45 Uhr sehen wollte, denn die konnten sich „Daktari“, „Bonanza“ oder „Die Leute von der Shiloh Ranch“ anschauen. Samstagabend kamen dann die großen Entertainer via Bildschirm ins Wohnzimmer. Und die Familie kam zusammen zu diesen Quizsendungen.

Seh- und Lebensgewohnheiten haben sich verändert - Rituale nehmen ab

Heute steht nach mehr als 30 Jahren im Programm die letzte große Samstagabendshow „Wetten, dass“ vor dem Aus. Noch drei Sendungen soll es geben. „Der Rückgang der Zuschauerzahlen zeigt, dass sich die Sehgewohnheiten verändert haben und das Format an Anziehungskraft verloren hat“, begründete ZDF-Programmdirektor Norbert Himmler den Schritt seines Senders.

So sieht's aus. Jeder schaut in seinem Tablet an, was ihm gefällt. Gemeinsames Fernsehen - höchstens noch zu WM-Zeiten.
So sieht's aus. Jeder schaut in seinem Tablet an, was ihm gefällt. Gemeinsames Fernsehen - höchstens noch zu WM-Zeiten.
© Imago

Es sind aber nicht nur die Sehgewohnheiten, sondern vor allem die Lebensgewohnheiten, die sich geändert haben. Der Faktor Arbeit spielt hierfür eine entscheidende Rolle. Die Zahlen des Statistischen Bundesamts von 2012 zeigen: Fast jeder vierte Beschäftigte arbeitet nach 18 Uhr, samstags arbeitet ein knappes Viertel der Beschäftigten. Die Deutschen machten 2012 1,3 Milliarden dokumentierte Überstunden. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) schätzt, dass die tatsächliche Mehrarbeit etwa doppelt so hoch ist und bei mehr als 2,5 Milliarden Stunden liegt. Wie soll man da einen automatisierten Fernsehrhythmus einhalten?

Verändert haben sich auch die Freizeiten der Kinder und Heranwachsenden. Schon Grundschüler kommen erst am späten Nachmittag aus der Schule, in den höheren Klassen sitzen die Schüler oft bis in den Abend hinein über Hausaufgaben und Referaten. Und die großen Universitätsbibliotheken haben teilweise für ihre Studenten sieben Tage die Woche bis 24 Uhr geöffnet.

Mehr aber noch hat das Internet die Fernsehgewohnheiten verändert. In einer medialen Welt, in der man sich zu jeder Tages- und Nachtzeit – egal an welchem Ort – seine Lieblingssendung streamen, also kurzzeitkopieren, kann, braucht es keine samstägliche Zusammenkunft vor dem Fernseher mehr.

Das Streamen hat nebenbei auch eine juristische Diskussion aufgeworfen, da einige Juristen der Meinung sind, dass der Kopiervorgang beim Streamen das Urheberrecht verletze: Der Nutzer vervielfältige beim Streamen den Inhalt, da Datenpakete vom Server des Anbieters zum PC des Nutzers gesendet und diese in der Regel im Cache (Zwischenspeicher) zwischengespeichert werden. Denn ein sofortiges Starten des Films zu Beginn der Datenübertragung würde die Abspielqualität beeinträchtigen. Das Bundesjustizministerium hat erklärt, dass es sich hierbei zum einen um „vorübergehende Vervielfältigungshandlungen“ handele, zum andern würde hier die „Privatkopieschranke“ greifen, da es eine Vervielfältigung zum privaten Gebrauch sei und eine Kopie erstellt werden dürfe, vorausgesetzt, dass diese nicht auf einer offensichtlich rechtswidrig hergestellten Vorlage beruhe.

Ende der 50er Jahre gab es täglich ein fünfstündiges Programm

Heute gibt es in fast 40 Prozent der Haushalte zwei oder mehr Fernsehgeräte. 1951 waren es in ganz Deutschland gerade mal 300 Fernsehapparate. Im Laufe der 50er-Jahre wurde das Fernsehprogramm zunächst auf täglich drei Stunden Sendezeit ausgelegt, Ende der 50er-Jahre gab es pro Tag bereits ein fünfstündiges Fernsehprogramm. Das entspricht dem heutigen durchschnittlichen Fernsehkonsum. Aber wessen?

18 Uhr - Sesamstraße! Als die Sendezeit für die Kinderserie 2001 geändert werden sollte, gab es Proteste. Vergeblich.
18 Uhr - Sesamstraße! Als die Sendezeit für die Kinderserie 2001 geändert werden sollte, gab es Proteste. Vergeblich.
© dpa

Studentin Jana klickt im Netz kurze Clips an, oder sie schaut am Wochenende fern, „dann aber so richtig!“, sagt sie. Junge Leute konsumieren ihre Lieblingssendungen auf DVDs in ganzen Staffeln, kleinen Clips auf Youtube und begreifen nicht, warum sie sich einen „Tatort“ ansehen sollen, der auf 88’30 Minuten konfektioniert ist, wenn die Geschichte bereits nach einer Stunde auserzählt ist. Sie surfen im Netz, tauschen Videoclips über soziale Netzwerke aus und sehen sich ihre Sendungen gezielt online an. Da wird nicht mehr durch die Kanäle gezappt und vielleicht auch mal an einer Sendung, die man gar nicht sehen wollte, hängengeblieben.

Kinder der 70er-Jahre wuchsen mit der „Sesamstraße“ auf. Um 18 Uhr waren die Spielplätze leer gefegt. Als die Sendung nach 30 Jahren ihren 18-Uhr-Sendeplatz im NDR aufgeben soll, löste die entsprechende Zeitungsmeldung Protestaufrufe der Eltern aus. Vergeblich. Heute ist die „Sendung mit der Maus“ die letzte Kindersendung, die noch regelmäßig im bundesweiten Programm der ARD läuft. So sind die Kinder aus dem Programm verbannt worden. Mit dem Gemeinschaftssender der öffentlich-rechtlichen Anstalten „Kika“ haben sie jetzt einen eigenen Sender. Und finden wohl auch als Jugendliche nicht zurück. Fernsehen als Familienprogramm kennen sie ohnehin nicht mehr. Die Studentin Jana bekam ihren ersten eigenen Fernseher, als sie zwölf Jahre alt wurde; bei ihrer Schwester Davina wird der Fernsehapparat durch Laptop, iPad oder iPhone ersetzt.

Wie anders war das 1981, als die US-Serie „Dallas“ nach Deutschland kam. Buchstäblich die halbe Fernsehnation sah zu, wie J. R. Ewing immer dienstags, 21.45 Uhr, die Seinen terrorisierte. Dabei hatten sich die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten anfangs mit dem Argument, in der Serie werde Gewalt verherrlicht, gegen eine Ausstrahlung entschieden. Erst als das Format in 70 Länder verkauft worden war, schwenkte man um – und zeigte die Sendung im Spätprogramm. „Dallas“ wurde der Straßenfeger der 80er-Jahre. Dass sich ein Fernsehprogramm spürbar auf das Verkehrsgeschehen auswirkt, kommt heute nur noch bei Mega-Ereignissen wie der gerade laufenden Fußball-Weltmeisterschaft vor.

ProSieben ist bei jungen Leuten der beliebteste Sender

Jana sah in den 90er-Jahren auf ihrem eigenen Fernseher Serien wie „Eine schrecklich nette Familie“, „King of Queens“ oder „Akte X“ auf ProSieben, dem heute noch beliebtesten Fernsehsender der Jugendlichen. Zu Weihnachten bekam sie einmal einen Videorekorder geschenkt, doch als der seinen Geist aufgab, wanderten die Videokassetten gleich mit in den Müll. Es folgte ein DVD-Rekorder, doch ist dieser mitsamt den DVDs auch schon wieder aus Janas kleiner Studentenbude verschwunden.

23 Millionen Nutzer greifen regelmäßig auf Bewegtbildinhalte im Netz zu. Die Grenze zwischen dem klassischen Fernsehen und Fernsehen im Internet über mobile Endgeräte verschwindet zunehmend. Die Zahl derjenigen, die über ihr Fernsehgerät ins Internet gehen, hat sich binnen eines Jahres versechsfacht.

Bis Ende 2012 wurden in Deutschland bereits mehr als zehn Millionen Smart-TVs verkauft

Am 1. Februar 2013 stellte der Video-on-Demand-Anbieter Netflix alle 13 Episoden der von ihm produzierten preisgekrönten Serie „House of Cards“ gleichzeitig zum Abruf zur Verfügung. So ist mit „House of Cards“ zum ersten Mal eine Serie gedreht worden, die gar nicht mehr anders geschaut werden will und soll. Mittlerweile ist die dritte Staffel in Vorbereitung.

Das USC Institute for Creative Technologies hat jüngst herausgefunden, dass mehr als 60 Prozent der US-Amerikaner Binge-Watching („Koma-Glotzen“) betreiben. Je jünger die Zuschauer sind, desto deutlicher ist dieser Trend. Jugendliche konsumieren an einem Wochenende alle Folgen ihrer Lieblingsstaffeln am Stück. Das wirkt sich umgekehrt auch auf deren Inhalte aus: Konnte man früher bei Serien wie „Monk“ oder „Dr. House“ jederzeit einsteigen, weil die Folgen nur lose miteinander verbunden waren, wird nun der erzählerische Bogen meist über 13 Folgen derart komplex erzählt, dass der Zuschauer von Anfang an zuschauen muss.

Bis Ende 2012 wurden in Deutschland bereits mehr als zehn Millionen Smart-TVs verkauft. Etwa ein Drittel der Haushalte ist derzeit mit einem Gerät, das eine Internetanbindung des Fernsehers gewährleistet, ausgestattet.

Die pwc-Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft Deutschland geht in ihrem ‚Trend Whitepaper’ davon aus, dass der Anteil der mit Smart-TV erwirtschafteten Umsätze an dem gesamten digitalen Filmverkauf- und Verleihmarkt von 15 Prozent im Jahr 2012 auf rund 35 Prozent im Jahr 2017 ansteigen kann.

Und mancher erwischt sich vielleicht selbst, wie er auf der Suche nach dem iPad ist, um einen Film downzuloaden, in der Mediathek zu sehen oder zu streamen. So auch Davinas Mutter, die sich nach einem langen Arbeitstag bei ihrer Lieblingsserie entspannen möchte. Doch wo ist das iPad? Und was macht eigentlich Davina? Die Zwölfjährige liegt entspannt auf ihrem Bett, aus dem iPod dudelt Musik, auf dem Handy wird geappt und auf dem Tablet läuft gerade eine Serie. Als die Mutter etwas sagen will, ist die Tochter schneller: „Ich sehe nicht fern, ich streame nur.“

Stella Müller

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