Jahrestag der Katastrophe von Fukushima: Das japanische Gespenst
Böden sind verseucht, ganze Ortschaften noch immer unbewohnbar. Drei Jahre nach dem 11. März 2011 sind die Auswirkungen der Katastrophe von Fukushima in Japan noch immer enorm. Trotzdem hält die Regierung an der Atomkraft fest. Eine Reise durch ein Land der Widersprüche.
Noch immer sieht sein Büro aus wie ein Lagerraum, zwischen Tischen und Stühlen stehen Kartons. Mittlerweile, nach fast drei Jahren, hat Norio Kanno sich an diese Unordnung gewöhnt. Er hatte auch keine Wahl.
Einen Tag ließen die Behörden in Japan den Bewohnern des kleinen Ortes Iitate im Frühjahr 2011 Zeit, um das Wichtigste zu packen und zu verschwinden. Über dem Ort schwebte, unsichtbar, doch tödlich, eine radioaktive Wolke. „Die Strahlung war plötzlich so hoch, dass man unmöglich bleiben konnte“, erinnert sich Norio Kanno. Auch er musste gehen – der Bürgermeister.
Sechs Wochen zuvor hatte ein Erdbeben der Stärke 9,0 die japanische Insel erschüttert, ein Tsunami zerstörte große Teile der Ostküste. Das Wasser überschwemmte viele Orte, von denen etliche ganz vernichtet wurden. Etwa 20 000 Menschen starben. Auch das an der Küste und etwa 40 Kilometer von Iitate entfernt gelegene Atomkraftwerk Fukushima Daiichi wurde damals schwer beschädigt, die Kühlung völlig zerstört. In drei Reaktoren setzten Kernschmelzen ein, in Eile ließ die Regierung Orte im Umkreis evakuieren, 300 000 Menschen mussten fliehen. Die Hälfte von ihnen wartet noch immer darauf, zurückkehren zu können.
Während sich die übrigen gut 6000 Einwohner Iitates auf Notunterkünfte im ganzen Land verteilten, zog der heute 67-jährige Kanno in eine Übergangsbleibe in der Stadt Kori, im nahe gelegenen Fukushima Stadt richtete er sein provisorisches Büro ein. Von dort aus hält er Kontakt mit seinen Bürgern, bemüht sich, die Auswirkungen der Katastrophe zu managen. Was passiert mit dem Nachwuchssport, der Feuerwehr, dem Tageszentrum für die älteren Bewohner? Alltägliche Fragen.
Er verwaltet ein Geisterdorf
Bei einem Spaziergang durch Iitate zeigt sich, wie es um das Dorf bestellt ist. Auf dem Platz vor dem verlassenen Rathaus steht ein Geigerzähler, dessen Werte je nach Windrichtung schwanken. Die Vorgärten der kleinen Häuser sind verwildert, auf dem Sportplatz der Mittelschule liegen seit drei Jahren ein paar Schuhe und Baseballschläger, das Schwimmbecken nebenan modert.
Etwa 30 Unternehmen und Kleinbetriebe haben die Erlaubnis, tagsüber in Teilen des Dorfs zu arbeiten. Über Nacht darf aber niemand bleiben, denn für längere Aufenthalte ist die Strahlung noch zu hoch, weiterhin ist nur ein Teil von Iitate dekontaminiert. Das ursprüngliche Ziel, die Strahlenwerte bis Anfang dieses Jahres auf ein erträgliches Niveau zu drosseln, konnte noch nicht erreicht werden. „Wir sollten im April zurückkehren“, sagt Norio Kanno. „Aber daraus wird jetzt doch nichts.“
So verwaltet Kanno von seinem Büro aus weiter ein Geisterdorf. Und er hat sich zum Advokaten der Verlierer gemacht. Er bemüht sich um schnellere Dekontaminierungsarbeiten nicht nur in seinem, sondern auch in anderen Dörfern – und um Entschädigungszahlungen für die Flüchtlinge, die alles verloren haben. Er kämpft auch gegen die Atomenergie, die in seinen Augen unkalkulierbare Gefahren birgt. Kanno sagt: „Eine Technologie, die so viel Schaden anrichtet, kann doch nicht gut sein.“ Und: „Wir wollen die Atomkraft nicht. Wir können auch anders leben.“ Er wünscht sich ein entschleunigtes Leben, mit weniger Energiebedarf.
Nur 250 Kilometer weiter südlich, in der Hauptstadt Tokio, interessiert die Regierung nicht, was Menschen wie Norio Kanno sagen. Das wurde erst kürzlich wieder deutlich, als Premierminister Shinzo Abe bekräftigte, an seinem Energieplan festhalten zu wollen. Dabei läuft derzeit noch immer keiner der 48 kommerziellen Kernreaktoren. Nach dem Unglück wurden sie alle heruntergefahren und überprüft. Sobald neue, strengere Sicherheitsstandards erfüllt sind, sollen möglichst viele wieder ans Netz gehen.
„Es ist traurig, dass dieses Land aus seinen Fehlern nicht lernt“, sagt Kanno. Wie groß muss eine Katastrophe sein?
„Ohne die Kernkraft hat unsere Wirtschaft einfach riesige Probleme“
Dabei sind die Japaner inzwischen mehrheitlich gegen die Atomkraft und – ungewöhnlich in diesem Land – politisch aktiv geworden. Mehrere Anti-Atom-Parteien haben sich gegründet, regelmäßig wird in Tokio gegen die Kernkraft demonstriert. Auch einige Zeitungen gehen mittlerweile kritischer mit dem Thema um, die Debatte um Japans Energiepolitik, die die Regierung zu vermeiden versucht, flammt immer wieder auf.
Seit Fukushima sind den Menschen die krank machenden Gefahren, die sie weder riechen noch fühlen können, unheimlich geworden. Mit der Liberaldemokratischen Partei (LDP) von Premier Shinzo Abe aber regiert eine Befürworterin der Kernkraft, die nicht nur eng mit der Wirtschaft verzahnt, sondern auch Mehrheitseigentümerin von Tepco ist, dem landesweit größten Stromversorger und Betreiber des Kraftwerks in Fukushima.
„Ohne die Kernkraft hat unsere Wirtschaft einfach riesige Probleme“, sagt Nobuo Tanaka. „Man sieht es doch jetzt, wo kein Reaktor läuft.“ Die Handelsbilanz sei in die roten Zahlen abgestürzt, der Strompreis dagegen in die Höhe geschossen. So bleibe den Haushalten weniger Geld für den Konsum, der aber so wichtig wäre fürs Wirtschaftswachstum. Nobuo Tanaka sitzt in seinem Tokioter Büro im elften Stock, mit weitem Blick über die Wolkenkratzer der Innenstadt. Der Ökonom ist 64 Jahre alt, sein Haar ist grau und schütter. Sein Büro stellt ihm das atomfreundliche Institut für Energieökonomie, für das er als Berater arbeitet. Als im März 2011 das Kraftwerk in Fukushima kollabierte, war er noch Chef der Internationalen Energieagentur in Paris. Wenn Tanaka Interviews gibt, muss er sich häufig auch zu dieser Zeit äußern, denn trotz allem war er niemals gegen Atomenergie. Schon vor 2011 riet er zwar einerseits zu strengeren Sicherheitsmaßnahmen in Japans Reaktoren, gleichzeitig aber zu einem höheren Anteil der Kernkraft im landesweiten Energiemix. 2011 machte die Atomenergie schon 30 Prozent von Japans Verbrauch aus, bis 2017 sollten es 40 Prozent werden.
Großer Druck der Industrie
Als der Universitätsabsolvent Tanaka in den 70er Jahren beim Wirtschaftsministerium anheuerte, war die Zeit der Ölkrise. „Die Preise für Rohstoffe schossen in die Höhe“, erinnert er sich. „Keiner wusste, wie lang das noch weitergehen würde. Wir mussten uns nach Alternativen für diese Importe umsehen.“ Die Atomenergie erschien als schnelle und saubere Lösung. Noch immer klingt es in Herrn Tanakas Büro so, als erledigten sich mit ihr alle Probleme. Nicht nur für das eigene Land, sondern auch im internationalen Vergleich. Tanaka sagt: „Es geht hier auch um Wettbewerbsfähigkeit.“
Unternehmen wie Hitachi, Toshiba, Mitsubishi oder Japan Steel Works gehören zu den wichtigsten auf dem Weltmarkt. Sie liefern alle möglichen Teile für Atomreaktoren, ohne sie würde die Nuklearbranche geschätztes Knowhow verlieren – und Japan Geld. Als die frühere Regierung im Sommer 2011, nach dem Unglück, den Atomausstieg verkündete, war der Druck aus der Industrie so groß, dass die damals noch regierende Demokratische Partei (DPJ) einknickte.
Für Nobuo Tanaka ist die Debatte um die Atomkraft aber auch eine Frage der Kommunikation. „Den Menschen muss erklärt werden, dass mit Hochdruck an der Reaktorsicherheit und dem Umgang mit dem Abfall geforscht wird“, sagt er. „Es gibt keine andere Energiequelle, die annähernd so effizient ist.“ Japans Energiebedarf sei eben hoch, alternativlos.
Norio Kanno aus Iitate hält diese Ansicht für eine „Unverschämtheit von Arroganz“. Eine Sammelklage gegen den Kraftwerksbetreiber Tepco hat er bereits auf den Weg gebracht. Er ist durchs Land gezogen, um über die Gefahren der Atomkraft zu informieren; er nahm an Demonstrationen in Tokio teil. Doch viel Erfolg hatte Kanno bisher nicht.
In der Hauptstadt, in Regierungskreisen, sind die Prioritäten andere. Tepco bemüht sich, schnellstmöglich wieder Kernspaltungen vornehmen zu dürfen. Finanziell beinahe ruiniert, arbeitet das Unternehmen bei elf seiner 17 Reaktoren an den Sicherheitsstandards. Fukushima Daiichi hingegen wird ewig ruhen, und so ist auch die ganze Region um das Kraftwerk, in der viele Orte ein ähnliches Schicksal wie Iitate haben, nicht mehr so wichtig. Zudem achten viele Wähler, ob sie gegen die Kernkraft sind oder nicht, nach zwei Jahrzehnten ökonomischen Stillstands und immer weiter wachsenden Staatsschulden, stärker auf die Wirtschaft. Auch deshalb kann Shinzo Abe seine Energiepolitik verfolgen, solange er sie nicht zum großen Thema macht.
Ein Politikwechsel ist nicht in Sicht
Drei Jahre nach der schlimmen Katastrophe vom 11. März 2011 ist jedenfalls kein Politikwechsel in Sicht – von Einsicht ganz zu schweigen. Wie kann es nur sein, dass Japan, weltweit das einzige Land, das sowohl die schreckliche Zerstörungskraft einer Atombombe als auch die verheerende Wirkung eines nuklearen GAUs erleben musste, offenbar unbeirrt an dieser Technologie festhält?
Die Suche nach einer Antwort führt auch nach Hiroshima. Ein Besuch im dortigen Friedensmuseum fühlt sich dieser Tage an wie ein Déjà-vu. Zwar erinnert die Ausstellung an die Abwürfe der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945 und an eine Zeit, in der es noch keine kommerziellen Atomreaktoren gab. Doch durch die Erinnerungen an die Folgen des Bombenabwurfs wird jeder Besucher auch an das noch andauernde Unglück in Fukushima erinnert. Selbst wenn es keinen offiziellen Querverweis gibt. Noch immer fordern Überlebende der Bomben eine bessere Unterstützung vom Staat. Gewissermaßen konkurrieren sie nun mit den Opfern aus Fukushima.
Mehr als 200 000 Menschen starben bei den Bombenangriffen der Amerikaner am 6. und 9. August 1945, Zehntausende sofort, weitere in den Jahren danach, an Verletzungen und Verstrahlung. Die Städte waren völlig zerstört, das japanische Volk zutiefst traumatisiert. Am 15. August 1945 kapitulierte Japan, der Zweite Weltkrieg war endgültig beendet – und die Gründe für die Niederlage schnell gefunden. An „Wissenschaft und Technologie“ habe es gemangelt, befand Premierminister Kantaro Suzuki am Tag der Kapitulation. Die Tageszeitung „Asahi Shimbun“ schrieb: „Wir haben gegen die Wissenschaft des Feindes verloren.“ Sofort gründete das Kulturministerium ein nationales Büro für wissenschaftliche Bildung. Die Regierung verkündete, 500 Millionen Yen aus dem Militär- ins Wissenschaftsbudget zu verschieben.
Nur ein paar Kilometer vom Zentrum des atomaren Einschlags entfernt sitzt Masae Yuasa auf einer mit Papierstapeln belegten Couch. „Es kränkte das Ehrgefühl, dass die Atombombe nicht in Tokio entwickelt worden war“, sagt sie. Yuasa ist Soziologieprofessorin an der Hiroshima City University und forscht zur politischen und gesellschaftlichen Dimension der Atomkraft. Ihr welliges Haar trägt sie offen, wenn ihr etwas nicht gefällt, schüttelt sie abschätzig den Kopf.
Der Weg in eine bessere Zukunft
So wie bei diesem Thema. „Japan hatte im Zweiten Weltkrieg sein eigenes Atomprogramm. Aber es wurde eingestellt, weil man dachte, dass der Aufwand, so eine Bombe zu produzieren, für jedes Land zu groß wäre.“ Dieser Fehlschluss machte die Verwüstung von Hiroshima und Nagasaki noch schmerzhafter. Und so kann das Mantra, das Japan in den Nachkriegsjahren entdeckte, erst verstanden werden. „Alles, was mit der Kernspaltung zu tun hatte, wurde später mit wissenschaftlichem Fortschritt assoziiert.“
Ohne den Einfluss der USA wäre es allerdings wohl kaum so weit gekommen. „Erstmal wollten viele nichts damit zu tun haben, das Atom hatte ja so viele Menschen getötet“, sagt Yuasa. Aber mit der Kapitulation war Japan unter die Kontrolle der Amerikaner geraten, Fernost sollte als wichtiger Partner gegen die Sowjetunion aufgebaut werden. Für den damaligen US-Präsidenten Dwight Eisenhower war klar: Die Atomtechnik sollte schnellstmöglich nach Japan. Vor den Vereinten Nationen erklärte er im Dezember 1953, die Kernenergie müsse zu friedlichen Zwecken eingesetzt werden.
Anfängliche Widerstände wurden auch mit dem Versprechen überwunden, die Atomtechnik sei der Weg in eine bessere Zukunft. Im Mai 1956 fand in Hiroshima die „Atoms-for-Peace“-Ausstellung statt. Mehr als 100 000 Besucher kamen, die Presse berichtete begeistert von all den Möglichkeiten, die das Atom bringen würde. „Japans Eliten waren sich sicher, das Atom sei die Errungenschaft für die Zukunft“, sagt Masae Yuasa und meint damit auch die Gegenwart: „Die riesigen Gefahren werden ja selbst nach Fukushima kleingeredet.“
Ein Jahr nach der „Atoms-for- Peace“-Ausstellung hatte Japan bereits mehr als 20 Reaktoren aus Großbritannien und den USA bestellt, der erste kam ausgerechnet nach Hiroshima. Damit wurde Japan potenziell auch zur Atommacht. Eine Kraft, die den Tod gebracht hatte, war jetzt zum Symbol für die Moderne geworden.
Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.