Flüchtlingsretter im Mittelmeer: "Das ist ein Outsourcing der Gewalt"
Der Seenotrettung von NGOs ist seit vergangener Woche weitgehend gestoppt. Aber Migration wechselt ihre Orte. Ein Gespräch mit der Göttinger Grenzforscherin Sabine Hess.
Die Hilfsorganisationen mussten sich angesichts libyscher Drohungen und des Drucks der EU-Länder aus der Seenotrettung im Mittelmeer zurückziehen, seit einer Woche scheint die Festung Europa perfekt. Was ist da passiert?
Das alles gab es schon früher, Abkommen etwa zwischen Italien und Libyen unter Berlusconi wie unter der Mitte-Links-Regierung Prodi. Die Politik setzt die Migrationspolitik anscheinend wieder auf Null zurück. Was sich jetzt klar zeigt, ist das komplette Versagen europäischer Migrationskontrolle. Sie funktioniert offensichtlich nur mit Hilfe diktatorischer Regime, die sich nicht an internationale Regeln oder das Völkerrecht gebunden fühlen. Und es geht anscheinend nur antidemokratisch. Das ist ein Outsourcing der Gewalt. Dies bedarf eine auf Abschottung setzende Migrationssteuerung anscheinend.
Aber erfolgreich im Sinne der Migrationsabwehr?
Natürlich. Jedenfalls für ein paar Jahre. Wenn man sich frühere Beispiele ansieht, funktioniert Repression eine Zeitlang. Spanien zum Beispiel hatte es geschafft, den Weg über die Kanaren zu versperren und die Meerenge von Gibraltar dicht zu machen. Dies war vor etwa zehn Jahren noch die am meisten frequentierte Route. Danach verschoben sich die Wege ostwärts. Auch die türkisch-griechische Grenze war schon einmal im Fokus der EU, 2001/2 kamen schon einmal Zehntausende dort über Land und die britische Regierung forderte Sanktionen gegen die Türkei. Inzwischen stehen die hochgerüsteten spanischen Grenzposten in Marokko, Ceuta und Melilla, wieder unter Druck.
Was ist mit dem jetzigen Brennpunkt Libyen?
Ich halte es für nicht ausgeschlossen, dass die Rumpfregierung, die in Tripolis regiert, auch die Kontrolle über ihre wenigen Kilometer Küste wieder verliert. Und warten wir ab, ob sich die Fluchtbewegungen nicht in Zukunft über Tunesien abspielen werden. Es sah schon öfter so aus, als seien die Grenzen nun wirklich dicht. Auch 2014/2015 hätte niemand damit gerechnet, dass es etwa eine Million Menschen nach Europa schaffen würden. Und dennoch ist es unsäglich, dass man nun einen Pakt mit den Warlords und bewaffneten Gruppen eingeht, die Jagd auf NGO-Boote machen.
Recht und Demokratie geraten für die Migrationskontrolle unter Druck, sagen Sie. Nach außen oder auch nach innen?
Europäische NGOs im Mittelmeer können jedenfalls nicht mehr agieren, obwohl sie das Recht und die sogar die völkerrechtliche Pflicht zur Seenotrettung haben. Und in der Türkei lässt sich besichtigen, dass Repression nicht nur nach außen wirkt. Der EU-Türkei-Deal war für Erdogan außen- wie innenpolitisch ein Erfolg: Nach innen dient die Flucht aus Syrien seiner Politik, einzelne Bevölkerungsgruppen gegeneinander zu hetzen. Außenpolitisch muss er sich von der EU seither nichts mehr sagen lassen, Europa trägt einen Maulkorb. Es ist dramatisch, wie Europa und besonders Deutschland sich nicht wirklich kritisch zur Lage in der Türkei äußern.
Sie sprachen von „Zurück auf Null“ in der Migrationspolitik. Hat sich nichts verändert seit den früheren Kontrollversuchen?
Doch. Die Kräfteverhältnisse in Europa haben sich gegenüber der Zeit vor zehn bis 20 Jahren natürlich verschoben. Einerseits zieht rechtes Gedankengut an, es gibt eine Renationalisierung und nationalistische Vorstellungen von Gesellschaft, die bis in die Mitte reichen. Dazu zähle ich auch, dass der SPD-Spitzenkandidat Martin Schulz noch einmal mit Kritik an der Flüchtlingsaufnahme von 2015 Punkte im Wahlkampf machen will.
Andererseits?
Andererseits gibt es auch Gegenkräfte. Der Sommer 2015 hat in einem bis dahin ungekannten Maß Menschen mobilisiert und zum Einsatz für Flüchtlinge motiviert – nicht nur in Deutschland, das gilt zum Beispiel auch für Italien. Migration ist zusehends das gesellschaftliche und politische kontroverse Thema Nummer eins und auch das Thema,.an dem sich in Zukunft entscheiden wird, wie die politischen Lager zu Frage der Demokratie stehen. Und meine Hoffnung ist, dass die vielen, die darauf anders schauen als die europäische Politik, sich die Frage der Demokratie zurückerobern.
Andrea Dernbach
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