Monika Grütters über digitalen Wandel: Das Internet bietet mehr Freiraum, als Demokratie verträgt
Die Digitalisierung stellt den Rechtsstaat auf eine Bewährungsprobe. Zur Wahrung zivilisatorischer Errungenschaften braucht es ein politisches Update. Ein Gastbeitrag.
Im Dezember 2013 bekam der Künstler Florian Mehnert Post von der Polizeidirektion Freiburg. Der Anlass: ein Ermittlungsverfahren wegen Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes. Mehnert hatte für ein Kunstprojekt Waldwege verwanzt und Gespräche der Spaziergänger als „Waldprotokolle“ veröffentlicht, um darauf aufmerksam zu machen, dass im digitalen Zeitalter kein Ort absoluter Privatheit mehr bleibt.
Er wollte Fragen zum Leben in der digitalen Gesellschaft aufwerfen und bekam als Antwort der analogen Welt eine Anzeige, weil jemand seine Intimsphäre verletzt sah. In dieser nur allzu verständlichen Reaktion offenbart sich die Widersprüchlichkeit unserer Haltung als User im Internet und als Bürger eines demokratischen Rechtsstaats. Online – im Netz – können wir für keine Google-Suche, für kein Facebook-Like, für keinen WhatsApp-Chat mit Vertraulichkeit rechnen. Offline – im Wald – finden wir schon ein einziges Mikrophon befremdlich. Während hier die bewährten Mechanismen der Rechtsdurchsetzung greifen, ist die Durchsetzung unserer Rechte im Netz alles andere als selbstverständlich.
Offensichtlich ermöglicht das Internet derzeit mehr Freiraum, als die Demokratie vertragen kann: die Möglichkeit, Daten zu missbrauchen; die Möglichkeit, Deutungsmonopole aufzubauen; die Möglichkeit, Lügen, Hass und Hetze zu verbreiten; die Möglichkeit, sich künstlerischer und geistiger Leistungen zu bedienen, ohne dafür zu bezahlen – um nur einige Beispiele zu nennen.
Damit stellt die Digitalisierung die Demokratie und den Rechtsstaat auf eine Bewährungsprobe: Wenn zivilisatorische Errungenschaften wie die Freiheit der Kunst, die kulturelle und mediale Vielfalt, die Sicherung geistigen Eigentums, der Schutz persönlicher Daten, das Recht auf freie Meinungsbildung und die Grundprinzipien einer demokratischen Kultur der Verständigung weiterhin Bestand haben sollen, brauchen die entsprechenden Regeln ein politisches Update: eine Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen.
Der Preis des Geschäftsmodells Bequemlichkeit sind unsere Daten
Zu diesen veränderten Rahmenbedingungen gehört beispielsweise, dass soziale Netzwerke in der demokratischen Öffentlichkeit zunehmend eine moderierende und damit auch für die Meinungsbildung relevante Rolle übernehmen. Was Facebook-Nutzer zu sehen bekommen, sind allerdings die Ergebnisse eines Algorithmus - ausgerichtet auf individuelle Nutzerpräferenzen und programmiert nicht im demokratischen Interesse der freien Meinungsbildung, sondern im Interesse ökonomischer Gewinnmaximierung mit dem Ziel, möglichst viel „Traffic“ zu generieren.
Das nährt zum einen die Filterblasen, in denen nicht zuletzt rassistische Hetze, Falschmeldungen und Verschwörungstheorien besonders gut gedeihen. Zum anderen birgt es die Gefahr, dass die Marktlogik der Klick-Ökonomie zunehmend das redaktionelle Angebot etablierter Medien bestimmt. Notwendig sind deshalb Regeln, die Transparenz und Wahlfreiheit fördern: Internetnutzer müssen in der Lage sein, meinungsbildungsrelevante Angebote einfach zu finden. Sie sollten außerdem leicht erkennen können, wenn Algorithmen Anwendung finden - wenn zum Beispiel Nachrichten nicht oder nicht ausschließlich nach journalistischen Kriterien ausgesucht werden.
Daher halte ich konkrete Transparenzvorschriften - insbesondere auf europäischer Ebene - für dringend erforderlich, damit klarer wird, welche zentralen Kriterien insbesondere bei Such- und Empfehlungsfunktionen verwendet werden. Wichtig ist mehr denn je auch die Medienkompetenz, die zu stärken gemeinsame Aufgabe von Bund und Ländern ist. Denn der Preis des Geschäftsmodells Bequemlichkeit sind im erheblichen Umfang unsere Daten. Der mutmaßliche, millionenfache Missbrauch der Daten von Facebook-Nutzern wirft ein Schlaglicht auf die Risiken dieser nur scheinbar kostenfreien Dienste - und auf das Versäumnis, Verantwortung der Diensteanbieter konsequent einzufordern und durchzusetzen.
Ein Update, eine Anpassung an die Rahmenbedingungen im Netz, braucht auch das Urheberrecht: Künstlerinnen und Künstler müssen auch künftig von ihrer Arbeit leben können. So sollten Plattformen nicht die Möglichkeit haben, ihre Geschäftsmodelle auf Kosten der Urheber und Rechtsinhaber zu verfolgen, sondern diese angemessen beteiligen und bei der Verhinderung von Rechtsverletzungen aktiv mitarbeiten müssen. Unter anderem dafür setze ich mich auf europäischer Ebene im Rahmen der Urheberrechtsreform ein – im Sinne jener Freiheit, die geistige und kreative Spitzenleistungen überhaupt erst möglich macht.
In diesem Sinne gilt es auch zu verhindern, dass Kulturgüter zur bloßen Handelsware degradiert werden. Mit der Buchpreisbindung zum Schutz der verlegerischen und der literarischen Vielfalt oder auch mit den von mir ausgelobten Preisen für Kulturorte in den Regionen – für Programmkinos, Musikclubs oder inhabergeführte Buchhandlungen – wenden wir uns gegen die Bewirtschaftung einer geistigen Monokultur, in der nur das überlebt, was sich gut verkauft.
"Demokratie zuerst" statt "Digital first"
Diskussionen über die digitale Zukunft sind immer auch Diskussionen über unser demokratisches Selbstverständnis. Wo Algorithmen die Macht übernehmen, wo Sätze wie „Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, kauften auch ...“ die Wahrnehmung lenken, beginnt die geistige und kulturelle Verarmung unserer Gesellschaft und damit auch die Erosion der Grundlagen unserer Demokratie. Statt „Digital first“ sollten wir uns deshalb den Anspruch „Demokratie zuerst“ auf die Fahnen schreiben. Eine Politik, die Menschen nicht nur als User betrachtet, sondern als Bürgerinnen und Bürger ernst nimmt, muss diesem Anspruch gerecht werden.
Die Autorin ist Staatsministerin für Kultur und Medien der Bundesregierung und Landesvorsitzende der Berliner CDU.
Monika Grütters