Bewegung im Parteiensystem: Das heimliche Erstarken der Grünen
Wer dominiert in der linken Mitte? In vier Bundesländern wird die SPD von den Grünen schon verdrängt.
Die Union zerfleischt sich, CDU und CSU stehen kurz vor dem Bruch, raufen sich wieder zusammen und bestimmen mit ihrem Frühsommerstreit wochenlang die Schlagzeilen – aber nicht allein sie bekommen es ab in den Umfragen, sondern auch die Sozialdemokraten. Der Koalitionspartner also, der hoffte, vom Zwist der Schwesterparteien zumindest ein bisschen profitieren zu können. Mittlerweile gibt es mehrere Umfragen, die nach dem Ende des Krachs in der Union entstanden sind. Anhand der Zahlen von Infratest, Emnid, Forsa und Insa wie auch beim Onlinebefrager Civey wird deutlich: Die Union knickt ein (wobei die CSU möglicherweise in Bayern deutlicher verliert als die CDU bundesweit), die AfD kann leicht zulegen, wenn auch weniger, als befürchtet worden war – aber die hoffnungsvollen Sozialdemokraten, die sich als Kraft der Vernunft geben, profitieren nicht. Als ob sie in der ganzen Angelegenheit nicht mehr so recht wahrgenommen würden. Für Matthias Moehl, der mit seinem Wahlinformationsdienst „election.de“ die Entwicklung seit Jahren bis hinunter auf die Wahlkreisebene beobachtet, ist das kein Wunder: „Der große Trend bei den Sozialdemokraten geht eben abwärts“, sagt er. „Die entscheidende Wende ist aber nicht in Sicht, weder programmatisch noch personell.“ Die SPD ist mittlerweile in den meisten Bundesländern auf ihre Stammwählerschaft reduziert, und die kommt seit längerem nicht mehr so sehr aus der Arbeiterschaft, sondern aus dem öffentlichen Dienst. So ist nicht sehr wahrscheinlich, dass das leichte Absinken der SPD und das Ansteigen der AfD viel miteinander zu tun haben – abgesehen davon, dass es der SPD nicht mehr gelingt, unter Protest- und Nichtwählern noch nennenswert Punkte zu machen.
Wohin verliert die Union?
An die Rechtspopulisten verliert aber wohl nicht einmal die Union – hier wenden sich mutmaßlich eher jene Anhänger ab, die den Streit abstoßend finden und einen Rechtsschwenk von CDU und CSU erkennen. Nicht zuletzt in Bayern, wo der Wahlkampf jetzt richtig beginnt. Politiker in der CDU-Spitze gehen davon aus, dass die CSU mit ihrer Krawallaktion im Juni nicht nur die AfD stärker gemacht hat, indem sie den Populisten Protestwähler zutreibt, sondern auch Anhänger in der Mitte an die FDP und an die Freien Wähler verlieren wird.
Und auch an die Grünen. Die sind die stillen Gewinner der aktuellen Bewegungen im Parteiensystem – und vielleicht wird sogar mehr daraus. Sie haben gemessen am Ergebnis der Bundestagswahl (8,9 Prozent) in den Umfragen am deutlichsten gewonnen, bis hinauf auf 14 Prozent. Zwar legen die Grünen zwischen den Wahlen häufig zu, um dann zu schwächeln, wenn es ernst wird. Veränderungen kommen in Deutschland jedoch gern von den Ländern her. Hier zeigte sich zuletzt eine bemerkenswerte Entwicklung. In Baden-Württemberg (da schon länger), aber auch Bayern, Berlin und Schleswig-Holstein schicken sich die Grünen an, die SPD als stärkste Kraft in der linken Mitte abzulösen.
Süden und Norden
Das legt zum Beispiel ein Blick in das Onlinetool „Mandatsrechner.de“ nahe, wo die aktuellen bundesweiten Umfragen auf Basis der Ergebnisse der Wahl 2017 auch in Sitzzahlen für die 16 Länder dargestellt werden. Und siehe da: In diesen vier Ländern liegen die Grünen vor den Sozialdemokraten oder sind zumindest gleichauf. Personen dürften dabei eine Rolle spielen. Winfried Kretschmann ist der unangefochtene Star der Stuttgarter Landespolitik, und Robert Habecks wachsende bundesweite Präsenz zieht seine Partei im Norden nach oben. Dass es in Bayern gelingt, wo keine grüne Strahlefigur auszumachen ist, deutet jedoch an, dass der kleine Erfolg über das Personelle hinausreicht.
Im Parteiensystem gibt es einen Trend zu mehr Regionalisierung. So stützt die SPD ihre verbliebene Stärke in zunehmendem Maß auf Niedersachsen, Nordrhein- Westfalen, Hamburg. In einstigen Hochburgen wie Brandenburg oder Schleswig- Holstein schwächelt die Partei massiv, auch in Rheinland-Pfalz deutet sich das an. Ob es den Grünen gelingen kann, sich in westdeutschen Ländern tatsächlich dauerhaft vor die SPD zu setzen, dürfte sich bei der Wahl im Oktober in Hessen zeigen. Zu den spannenden Fragen dort gehört, wie stark es den Grünen gelingt, den vorerst noch deutlichen Abstand zur SPD (22 zu 14 Prozent laut Infratest vom Juni) zu verringern. Die Differenz war schon höher. Klappen die Sozialdemokraten auch dort zusammen, wo sie zumindest im Norden des Landes bisher noch Wahlkreise gewinnen können?