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Journalisten bereiten sich auf eine Sondersitzung des UN-Sicherheitsrates zu den Militärschlägen der USA, Großbritanniens und Frankreichs auf syrische Ziele vor.
© imago/Xinhua

Nach dem Militärschlag in Syrien: Das Gewaltverbot droht Schaden zu nehmen

Das militärische Eingreifen hat erhebliche Bedeutung für die Zukunft des Völkerrechts, schreibt der Völkerrechtler Christian Walter. Ein Gastbeitrag.

Die gegenwärtige Debatte um die Rechtfertigung des militärischen Eingreifens durch die USA, Frankreich und Großbritannien in Syrien wird ganz überwiegend auf einer politischen und ethisch-moralischen Ebene geführt. Die besondere Verwerflichkeit des Einsatzes von chemischen Waffen gegen die Zivilbevölkerung und die allgemeine Ächtung dieser Waffen durch das internationale Recht werden betont, die Gegenschläge werden als angemessen und verhältnismäßig bezeichnet und es wird die Hoffnung geäußert, sie könnten das syrische Regime vom weiteren Einsatz chemischer Waffen abschrecken. Die Angabe einer konkreten Rechtsgrundlage, aus der sich eine juristische Rechtfertigung für das Eingreifen trotz des Gewaltverbots ergeben könnte, wird dagegen nach Möglichkeit vermieden –  obwohl das Gewaltverbot ein zentraler Eckpfeiler der gegenwärtigen Völkerrechtsordnung ist. Die Regierung des Vereinigten Königreichs hat als bislang einziger der maßgeblich beteiligten Akteure eine ausdrückliche völkerrechtliche Rechtfertigung für das Vorgehen angeboten. Sie beruft sich auf das (umstrittene) Rechtsinstitut der humanitären Intervention, dessen Voraussetzungen sie aus ihrer Sicht in einer Erklärung knapp zusammenfasst und im konkreten Fall für einschlägig hält. Überzeugt das?

Die Briten sind die einzigen, die den Angriff auf syrische Ziele völkerrechtlich zu rechtfertigen versuchen - nicht sehr überzeugend

Aus völkerrechtlicher Sicht gilt es zunächst einmal positiv hervorzuheben, dass überhaupt ein solcher förmlicher Rechtfertigungsversuch erfolgt, macht es doch deutlich, dass sich zumindest einer der handelnden Staaten bestehender rechtlicher Bindungen bewusst ist und sich gewillt zeigt, diese Bindungen zu beachten. Gleichzeitig ist aber auch nicht zu übersehen, dass die britische Argumentation eine Reihe von nicht unerheblichen rechtlichen Hindernissen überwinden muss.

In den vergangenen Jahren hat sich die Debatte um ein Eingreifen zum Schutz der Zivilbevölkerung vor schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen stark auf die sogenannte Schutzverantwortung (responsibility to protect) konzentriert. Diese Verantwortung trifft die internationale Gemeinschaft nur subsidiär. Primär liegt sie beim jeweiligen Staat selbst. Kommt es dann aber doch auf die internationale Schutzverantwortung an, so muss sie nach ganz allgemeiner Auffassung vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen wahrgenommen werden. Ein einseitiges Eingreifen durch einzelne Staaten wird auch dann nicht als zulässige alternative Lösungsmöglichkeit angesehen, wenn der Sicherheitsrat wegen des Vetos eines der fünf ständigen Mitglieder keine Entscheidung über eine Intervention treffen kann.

Die britische Position zielt nun erkennbar darauf ab, dem sehr viel älteren Institut der einseitigen humanitären Intervention neue rechtliche Bedeutung zu verleihen. Eine gesicherte Rechtsüberzeugung und eine von ihr getragene Staatenpraxis, die Voraussetzung für entsprechendes Gewohnheitsrecht wären, sind bislang allenfalls in Ansätzen erkennbar. Unilaterales militärisches Eingreifen – und an dieser Qualifikation der Maßnahmen ändert auch die Beteiligung von drei Staaten nichts – gibt nun einmal Anlass zu erheblichem Misstrauen. Die britische Rechtfertigungsstrategie bewegt sich also auf einem normativ höchst unsicheren Grund.

Militärschläge als humanitäre Gegenmaßnahme?

Ein Weiteres kommt hinzu: Die veröffentlichten Rechtfertigungen rücken die Militärschläge stark in das Licht einer sogenannten Gegenmaßnahme. Nach allgemeinem Völkerrecht handelt es sich bei Gegenmaßnahmen um die Reaktion auf ein vorausgegangenes völkerrechtswidriges Verhalten. Mit ihrer sanktionierenden Wirkung zielen sie darauf ab, den Rechtsbrecher zur Rückkehr zu einem regelkonformen Verhalten zu veranlassen. Gegenmaßnahmen aber dürfen in keinem Fall militärische Gewalt beinhalten. Die britische Rechtfertigungsstrategie trägt Erwägungen des humanitären Schutzes der Zivilbevölkerung in das Recht der Gegenmaßnahmen hinein, um den Einsatz militärischer Maßnahmen zu begründen. Die Konzepte der humanitären Intervention und der Schutzverantwortung werden potentiell zur „humanitären Gegenmaßnahme“ weiterentwickelt. Dadurch wird das bislang vergleichsweise fest verankerte Verbot militärischer Gegenmaßnahmen aufgeweicht. Das erscheint auf den ersten Blick wenig wünschenswert. Man könnte allerdings einwenden, dass eine solche Aufweichung ohnehin schon in den Konzepten der Schutzverantwortung und der humanitären Intervention angelegt ist. Die einschlägige Regelung im Recht der Gegenmaßnahmen verweist insoweit auf das Gewaltverbot in der UN-Charta. Sollte dieses in bestimmten Fällen humanitäre Ausnahmen zulassen, warum dann nicht auch das Recht der Gegenmaßnahmen?

Nichts Neues also? Daran muss man zweifeln, denn die Zielrichtung ist jeweils eine deutlich andere: Die humanitäre Intervention und die Schutzverantwortung zielen auf den Schutz der Zivilbevölkerung insgesamt. Wenn man aus dieser Perspektive argumentiert, dann stellt sich die Frage, warum eigentlich nur Schutz vor dem Einsatz chemischer Waffen bestehen soll. Müsste die internationale Gemeinschaft, wenn sie schon diesen Rechtfertigungsgrund bemüht, nicht auch vor anderen Formen der gewaltsamen Unterdrückung und Ermordung Schutz gewähren? Das Recht der Gegenmaßnahme verfolgt dagegen die sehr viel eingeschränktere Zielsetzung einen bestimmten Völkerrechtsverstoß so zu sanktionieren, dass er nach Möglichkeit zurückgenommen und jedenfalls nicht wiederholt wird. Das lässt sich leichter auf einzelne Maßnahmen beschränken. Außerdem müssen das Kriegsvölkerrecht und die Bindung an die Menschenrechte beachtet werden. Im konkreten Fall dürfte sich die für Gegenmaßnahmen geforderte Verhältnismäßigkeit nach den derzeit vorliegenden Berichten jedenfalls daraus ergeben, dass sich die Angriffe auf Produktions- und Forschungsanlangen zur Entwicklung chemischer Waffen gerichtet haben und in ihren Wirkungen offenbar auf diese Anlagen begrenzt geblieben sind.

Was bedeuten diese Überlegungen für die Beurteilung der militärischen Angriffe in Syrien? Zunächst einmal fügt sich die Argumentation des britischen Außenministeriums ganz unzweifelhaft ein in eine allgemeine Entwicklung der letzten Jahre, die Ausnahmetatbestände zum Gewaltverbot aus humanitären Gründen auszuweiten. Ob man die in der britischen Argumentation im Kern angelegte Rechtfertigung als „humanitäre Gegenmaßnahme“ für eine positive oder eine eher problematische Entwicklung hält, ist damit auch eine völkerrechtspolitische Frage. Für eine Beschränkung militärischer Gewaltanwendung auf die Schutzverantwortung, die responsibility to protect, spricht deren Ausrichtung auf den Sicherheitsrat und ihre Verankerung im UN-System: Ohne Ermächtigung des Sicherheitsrats keine militärische Gewaltanwendung, auch nicht zum Schutz der Zivilbevölkerung. Diese klare Linie hat den Vorteil, dass die zentralen Strukturen des Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit der Uno unangetastet bleiben. Sie hat freilich auch den Nachteil, dass dessen strukturelle Schwäche, eine mögliche Entscheidungsblockade durch das Veto eines ständigen Mitglieds, ebenfalls unangetastet bleibt. Für eine Übertragung des humanitären Schutzgedankens in das Recht der Gegenmaßnahmen lässt sich hingegen anführen, dass sie eine eng definierte militärische Reaktion auf einen konkreten und schwerwiegenden Völkerrechtsverstoß ermöglichen würde, ohne gleich das gesamte Konzept der Schutzverantwortung in die Hände einzelner Staaten zu legen. In dieser Begrenzung der Reaktionsmöglichkeiten mag man einen Vorteil sehen. 

Eingriffe durch Einzelstaaten zum Schutz der Zivilbevölkerung sollten auf wenige Ausnahmen begrenzt werden

Das Eingreifen in Syrien hat also über den konkreten Anlass hinaus ganz erhebliche Bedeutung für die Zukunft der völkerrechtlichen Regeln über die Einhegung militärischer Gewalt. Dabei kommt es nicht nur auf das Verhalten und die Äußerungen der unmittelbar handelnden drei Staaten an. Vielmehr tragen auch die an den militärischen Maßnahmen selbst nicht unmittelbar beteiligten Staaten durch ihre Reaktionen auf den Militärschlag zur weiteren Rechtsentwicklung bei. Äußern sie sich vage und allgemein zustimmend, so besteht die Gefahr einer erheblichen Schwächung des Gewaltverbots. Auch ist es im Recht der Gegenmaßnahmen keineswegs klar, dass andere als der verletzte Staat selbst Gegenmaßnahmen ergreifen dürfen. Nicht zuletzt fiele die Bewertung sicherlich auch dann leichter, wenn man sich einigermaßen sicher sein könnte, dass die Handelnden fest auf dem Boden einer vom Völkerrecht getragenen internationalen Ordnung stehen, die auf multilaterale Lösungen setzt. Aber wer vermag ein solches Vertrauen in die derzeitige amerikanische Administration aufzubringen?

Alles in allem täte man deshalb gut daran, die Wirkungen einer potentiellen neuen Ausnahme in Form der „humanitären Gegenmaßnahme“ auf besonders schwerwiegende Verstöße zu beschränken und dies deutlich so zu formulieren. Mit der Ächtung chemischer Waffen, deren Ursprünge sich mindestens bis in das Giftverbot der Haager Landkriegsordnung aus dem Jahr 1907 zurückverfolgen lassen, hätte man einen Anknüpfungspunkt für eine möglichst enge Beschränkung. Ob sich eine solche Beschränkung auf Dauer durchhalten lässt, bleibt freilich eine offene Frage. Die Entwicklung der letzten Jahre weist – wie gesagt – eher in die entgegengesetzte Richtung, auch wenn alle Bemühungen um die konzeptionelle Etablierung der responsibility to protect bislang wenig am Schicksal der in verschiedenen Regionen der Welt von (Bürger)Kriegsgräueln gebeutelten Zivilbevölkerung zu ändern vermochten. Sollte sich die „humanitäre Gegenmaßnahme“ als weitere Ausnahmekategorie etablieren, so dürfte ihre Wirkung auf Regime wie das in Syrien ebenfalls äußerst begrenzt bleiben. Zudem ist die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, dass sie ausgeweitet und missbraucht werden kann. All das stimmt wenig hoffnungsvoll. Und dennoch: Wäre weiteres bloßes Mahnen wirklich die bessere Alternative?

Der Autor ist Professor für Völkerrecht und Öffentliches Recht an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Christian Walter

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