Grüne Sicherheitspolitik: "Das geht nur, indem man Atomwaffen abzieht"
Sind die Grünen regierungsfähig, können sie die EU in der Welt stärken? Der Politologe Herfried Münkler hat das verneint. Jürgen Trittin widerspricht ihm heftig. Ein Interview.
Herr Trittin, der Politikwissenschaftler Herfried Münkler hat die These aufgestellt, bei den Grünen dominiere die Klimafrage alles, geopolitische Fragen seien ihnen egal, weshalb sie schlecht für eine Regierungsbeteiligung gerüstet seien. Was halten Sie ihm entgegen?
Dass er irrt. Er argumentiert nicht auf der Höhe der Zeit. Geopolitik kann man heute gar nicht mehr denken, ohne die Auswirkungen der Klimakrise zu berücksichtigen. Man kann die Konflikte vor der Haustür Europas überhaupt nicht verstehen, zieht man eine künstliche Grenze zwischen Geopolitik und Klimafrage. Gerade in der Sahelzone und im Mittleren Osten ist die Klimakrise ein Krisentreiber. Dazu kommt: Je stärker wichtige Staaten auf fossile Brennstoffe verzichten, umso mehr verschieben sich auch globale Machtverhältnisse.
Das müssen Sie erläutern.
Die Rolle von internationalen „Spoilern“ wie Russland und Saudi-Arabien, deren Reichtum auf der Ausbeutung fossiler Energie beruht und die sich kaum an internationale Regeln halten, wird zurück gehen, weil ihr Öl und Gas auf dem Weltmarkt weniger gefragt ist. Krieg ums Öl verliert an Bedeutung. Dagegen sind Länder wie China geopolitisch im Aufwind, die stärker auf erneuerbare Energie setzen und gleichzeitig in der Lage sind, durch künstliche Intelligenz Energienetze zu steuern. Ich glaube, die Grünen sind da weiter als Herfried Münkler.
Münkler sagt weiter, eine „ganze Reihe von Bedenklichkeiten, Begrenzungen und Selbstbindungen“ mache es den Grünen schwer, auf die Herausforderungen der europäischen Sicherheits- und Außenpolitik zu antworten. Sind Sie denn etwa bereit zu robusten Auslandseinsätzen der Bundeswehr im Rahmen der EU, wenn die USA unter Joe Biden Europa mehr Aufgaben abverlangen werden?
Politische Verantwortung besteht nicht darin, den Finger auf den Abzug zu legen und abzudrücken. Es mag manchmal nötig sein, militärische Mittel anzuwenden – aber das schafft höchstens ein Zeitfenster für eine politische Lösung. Ist ultima ratio. Auf die Konflikte der heutigen Welt gibt weder der Nuklearpazifismus der 80er noch der Menschenrechtsinterventionismus der 90er eine ausreichende Antwort. Gar keine Antwort aber gibt die außenpolitische Orientierung der Union aus dem Kalten Krieg der 70er. Der Instrumentenkasten des Kalten Krieges aus Abschreckung, Atomwaffen und Aufrüstung versagt vor asymmetrischen und hybriden Bedrohungen. Das gilt sogar für den Auslöser der Renaissance der Blocklogik, der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und der russischen Intervention in der Ost-Ukraine. Hier blieben Aufrüstung und Abschreckung ergebnislos. Es funktioniert nicht.
Warum soll das nicht funktionieren?
Erstens erzeugt Aufrüstung weniger Sicherheit. Zweitens geben die NATO-Mitgliedsstaaten der EU schon heute mehr als drei Mal so viel Geld für Rüstung aus wie Russland. Außerdem wird mit Aufrüstung und Abschreckung überhaupt nicht auf die tatsächlichen Gefährdungen europäischer Sicherheit geantwortet: Staatszerfall und asymmetrische Konflikte. Drittens gibt Aufrüstung keine Antwort darauf, mit welchen Mitteln Despoten oder autoritäre Regime wie die Türkei oder auch Russland in Räume ohne feste Machtstrukturen vorstoßen. Die Bundesregierung gibt keine Antworten auf die Krise in Libyen, den Krieg im Jemen oder den Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan. Obwohl die Bundesregierung selbst einen Waffenstillstand für Libyen verhandelt hat, liefert sie weiter Waffen an die Konfliktparteien, die diesen Waffenstillstand offensiv brechen. Das gilt für Ägypten, für die Vereinigten Arabischen Emirate sowie für die Türkei und Katar - Hauptzielländer deutscher Waffenexporte. Das ist verantwortungslos.
Die Selbstbeschreibung der Grünen als die eigentliche deutsche Europapartei stellt der Politikwissenschaftler auch infrage, wenn er sagt, sie seien kaum gerüstet dafür, die Außen- und Sicherheitspolitik der EU zu stärken…
Wir streiten weit entschlossener als andere für die Selbstbindung Deutschlands in Europa. Es waren Merkel und Scholz die eine Sperrminorität gegen Parlament und Kommission bei der Digitalsteuer organisiert haben. Anderes Beispiel: Die Türkei, die illegal Waffen nach Libyen liefert, trifft Vorbereitung, im Seegebiet der EU-Staaten Zypern und Griechenland Erdgas zu fördern. Eine Mehrheit in der EU will darauf mit Sanktionen antworten, doch die Bundesregierung blockiert das - offenkundig auf Wunsch der USA. Nicht nur das. Obwohl die Türkei unter einem UN-Mandat eingesetzte Bundeswehrsoldaten daran hinderte, ein türkisches Schiff auf dem Weg nach Libyen zu kontrollieren, will die Bundesregierung Erdogan dafür U-Boote liefern. Die deutsche Außenpolitik unter Angela Merkel kommt ihrer Aufgabe nicht nach, Konflikte in der Nachbarschaft Europas zu begrenzen und zu befrieden. Da ist Libyen leider nicht das einzige Beispiel.
Die Grünen fordern in ihrem neuen Grundsatzprogramm, dass Deutschland dem Atomwaffenverbotsvertrag beitritt. Sie sind also gegen nukleare Abschreckung und fordern den Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland?
Das ist keine Neuigkeit, wir waren schon immer gegen nukleare Abschreckung…
Vorhin haben Sie aber gesagt, der Nuklearpazifismus des vergangenen Jahrhunderts helfe heute nicht weiter….
Ich habe gesagt, er reicht nicht aus. Tatsächlich haben wir es mit schwarz-gelber Regression zu tun. Union und FDP hatten in der schwarz-gelben Koalition (2009 bis 2013) verabredet, die US-Atomwaffen in Deutschland zu beseitigen. Heute wollen sie diese mit F18 Kampffliegern modernisieren. Wir brauchen stattdessen eine realpolitische Strategie, um die Bedrohung Europas durch Nuklearwaffen zu mindern. Das geht nur, indem man Atomwaffen aus Europa abzieht. Wir schlagen eine EU-Initiative vor, die den Abzug der Raketenabwehrsysteme in Osteuropa anbietet, falls Russland seine Nuklearwaffen in Kaliningrad ebenfalls abzieht und vernichtet. Die in Deutschland stationierten taktischen US-Atomwaffen sind anachronistisch, denn sie sind dafür gedacht, vorrückende konventionelle Truppen zu stoppen. Aber niemand in Europa wird eine Atombombe im Baltikum abwerfen. Sie taugen allenfalls als diplomatisches Faustpfand.
Und Sie glauben, die Franzosen, Polen und Balten machen da tatsächlich mit? Die USA müssten ja dazu auch bereit sein, wenn Sie die Nato nicht sprengen wollen.
Der Abzug der Waffen aus Kaliningrad erhöht die Sicherheit der Balten und Polen massiv. Die Frage an Frankreich ist eine andere, denn die besitzen eigene Atomwaffen. Übrigens: Kanada ist schon vor Jahren aus der nuklearen Teilhabe ausgestiegen und ist immer noch in der NATO.
Sie versprechen in Ihrem Grundsatzprogramm, der Bundeswehr alle nötige Ausrüstung zu geben, verweigern aber die Anschaffung von Kampfdrohnen. Wie passt das zusammen?
Das sollte man sich ehrlich machen. Die Debatte wird vom Verteidigungsministerium verlogen geführt. Es ist Unsinn, so zu tun, als wären Kampfdrohnen so was wie Splitterwesten zum Schutz der Soldat*innen. Kampfdrohnen dienen dazu, in asymmetrischen Konflikten Luftüberlegenheit bei Kampfeinsätzen herzustellen. Es geht nicht um die Technik, sondern um die Frage: Welche Einsätze der Bundeswehr wird der Bundestag künftig beschließen? Für die EU-Ausbildungsmission in Mali brauche ich keine Kampfdrohnen. Für die Mission Barkhane der Franzosen, die offensiv Aufständische bekämpfen, stellt sich die Frage eher.
Stimmen Sie Grünen-Chefin Annalena Baerbock zu, die sagt, robuste Auslandseinsätze auch der Bundeswehr werden notwendig werden, um die Außen- und Sicherheitspolitik der EU zu stärken?
Ja. Wir müssen uns in der EU mehr um solche Fragen kümmern. Die Amerikaner werden auch unter dem neuen Präsidenten Joe Biden ihren Rückzug aus der Nachbarschaft Europas fortsetzen. Auf die EU kommt mehr Verantwortung zu, auch mehr militärische Aufgaben.
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Kommen wir zur Frage der Rüstungsausgaben. Münkler sagt, Deutschland werde in der Größenordnung von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts oder mehr ausgeben müssen – nicht nur wegen der Nato-Ziele, sondern um Europa handlungsfähig zu machen. Hat er recht?
Hier nähert sich Herr Münkler der grünen Position an. Wir haben immer gesagt, es gibt keine rationale Begründung für das Zwei-Prozent-Ziel der Nato. Für die Einsätze, die laufen, und die Konflikte der Zukunft müssen die Soldat*innen der Bundeswehr bestmöglich ausgerüstet sein. Es ist verantwortungslos, wenn etwa in Mali deutsche Soldat*innen Force Protection für die Afrikanische Union (AU) leisten, aber zu wenige Hubschrauber haben, um die notwendigen Transporte zu gewährleisten. Den Mangel zu beheben, wird mehr Geld kosten. Ich glaube aber nicht, dass die Behebung der Mängel der Bundeswehr-Ausrüstung so viel kostet, dass die Rüstungsausgaben das Zwei-Prozent-Ziel erreichen. Seit das Bruttosozialprodukt gefallen ist, steigen unsere prozentualen Rüstungsausgaben, obwohl sich an der Summe nichts ändert. Da sieht man doch, dass Zahlenfetischismus keine verantwortliche Sicherheitspolitik ist.
Mit einem Satz: Sie behaupten, die Grünen seien in der Außen- und Sicherheitspolitik regierungsfähig?
Mit Sicherheit regierungsfähiger als die Parteien, die im Moment regieren.