Angela Merkel am Tag der Deutschen Einheit: "Das dürfen wir nie vergessen"
Bundeskanzlerin Angela Merkel würdigt in ihrer Rede zum Tage der deutschen Einheit den Mut der DDR-Bürger vor 25 Jahren und schlägt einen großen Bogen zu den aktuellen Problemen. Bei den Feierlichkeiten hält sie sich nicht immer an das Protokoll
Auch die güldene Amtskette verschafft Hannovers Oberbürgermeister Stefan Schostok (SPD) nicht die notwendige Autorität. „Jetzt gehen wir in die Kirche“, raunt das Stadtoberhaupt der versammelten Staatsspitze zwischen Altem Rathaus und Marktkirche zu. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) schaut auf ihre Uhr und fragt verwundert: „Jetzt schon?“ Ein kurzer Austausch mit Bundespräsident Joachim Gauck, dann ist die Sache klar: „Es ist noch Zeit, wir gehen da rüber.“ Zum Schrecken des Protokolls marschieren die fünf obersten Verfassungsorgane auf die rund 100 Zaungäste auf der anderen Seite der Straße zu.
Gemeinsam mit den Präsidenten von Bundesrat, Bundestag und Bundesverfassungsgericht verlegen Merkel und Gauck das eigentlich nach dem Gottesdienst und an anderer Stelle geplante Bad in der Menge kurzerhand vor. Die Kanzlerin quetscht Yang Jing, 27-jährige Studentin aus China, nach ihrer Herkunft aus, wünscht Rentnerin Sigrid Thomas aus Hannover freundlich „alles Gute“ und darf sich selbst über einen Korb mit frischen Äpfeln aus dem Alten Land freuen. „Alles Boskop, den mag sie ganz besonders“, erklärt Apfelkönigin Janina Viets stolz.
Viel Applaus und einige Pfiffe
Bei strahlendem Sonnenschein am Freitag entwickeln sich die Feiern zum Tag der Deutschen Einheit bereits früh zu dem fröhlichen Bürgerfest, das sich die niedersächsischen Ausrichter erhofft haben. Nach den geistlichen Worten in der Marktkirche geht das Schaulaufen der höchsten Staatsrepräsentanten trotz einiger Pfiffe munter weiter. Merkel lässt sich weder von den sieben aufgespannten Schirmen mit der Aufschrift „DDR lebt“ noch von Protestplakaten wie „Stoppt die Kriegstreiberei“ oder „Frieden mit Russland“ beirren und plaudert locker mit den Menschen direkt hinter der Absperrung und lässt sich bereitwillig mit dem geschminkten Pantomimen „Norbertin“ aus Seelze ablichten.
Gauck kann gar nicht genug bekommen, benutzt beide Hände gleichzeitig, befriedigt im Akkord das Nähebedürfnis seines Volkes. Und sprengt wieder das Protokoll: Der Präsident sprintet plötzlich aus dem mit kleinen Kreuzchen auf dem Pflaster vorgezeichneten Bereich heraus und stürmt enthusiastisch auf die aus Potsdam angereisten Musiker und Sänger des deutsch-afrikanischen Klangnetzwerks der Stiftung Comenga zu. „Kein schöner Land“ und anderes deutsches Liedgut vermischt die Gruppe unter dem Applaus der Zuschauer mit schwarzen Trommelrhythmen zu heißen Soul- und Gospelsongs. Aus einem Fenster im zweiten Stock des Eckhauses flattert ein „Deutschland“-Schal.
„Vereint in Vielfalt“ – eine bessere Bestätigung für das Motto der Einheitsfeiern kann sich der zufrieden lächelnde Gastgeber, Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD), gar nicht wünschen. „Vereint in Vielfalt“ – das gelte nicht nur für den mitunter von Schwierigkeiten geprägten Prozess der Einheit und die inzwischen erfolgreiche Zusammenarbeit der 16 Bundesländer mit all ihren eigenen Traditionen und Geschichte, greift Weil als noch amtierender Bundesratspräsident das Motto beim offiziellen Festakt im Congresscentrum auf. Dieses stehe auch für die moderne heutige Gesellschaft. „Aus zahllosen Ländern, aus allen Kontinenten der Welt sind Menschen in unser Land gekommen, und sie kommen weiterhin. Dieses Land ist auch ihre Heimat.“ Sie prägten es durch ihre Leistung entscheidend mit. „Viele Flüchtlinge von heute sind unsere Nachbarn von morgen. Wir sollten sie auch so behandeln“, mahnt der Ministerpräsident mit Blick auf Asylsuchende aus Syrien und dem Irak.
Nachdenkliche Töne der Bundeskanzlerin
Auch die Kanzlerin greift in ihrer sehr nachdenklichen Festansprache die aktuellen Konflikte im Nahen Osten auf, geißelt den „barbarischen Vormarsch“ der islamistischen Terrorgruppe IS und fordert dazu auf, junge in Deutschland geborene Menschen „mit aller Kraft davon abzuhalten, in den Terrorkrieg zu ziehen“. Gleichzeitig rechtfertigt Merkel die Sanktionen gegen Russland, kündigt eine Luftbrücke zur Versorgung der von Ebola betroffenen Länder in Westafrika an, stellt rasche Aufklärung über die massiven Ausrüstungsmängel bei der Bundeswehr in Aussicht und verspricht Gerechtigkeit bei den laufenden Verhandlungen zum Solidarpakt III. Man werde dabei „finanzielle Brüche“ für Ostdeutschland vermeiden, aber auch sorgen, alle strukturschwachen Regionen – im Osten wie im Westen – weiterzuentwickeln. Die Einheit bezeichnet die Kanzlern als Erfolgsgeschichte; den Mut der damaligen DDR-Bürger brauche man aber auch heute noch, um Freiheit, Toleranz und Menschenrechte immer wieder zu erkämpfen und zu verteidigen. „Das dürfen wir nie vergessen.“
Zwischen den Reden pfeift vor 1500 geladenen Gästen der Scorpions-Sänger Klaus Meine gemeinsam mit dem Mädchenchor Hannover sein berühmtes „Wind of Change“, die inoffizielle Hymne zum Verschwinden des Eisernen Vorhangs, und heimst den meisten Applaus ein. Auf eine symbolische Mauer werden Bilder von Zeitzeugen der friedlichen Revolution vor 25 Jahren projiziert.
Eine halbe Million Besucher
Draußen auf der 1,5 Kilometer langen Festmeile zeigt derweil die Bundeswehr – angeblich fahrbereite – Sanitätspanzer, das Statistische Bundesamt will laut Werbebanner „Bürokratie sichtbar machen“. Hauptsponsor VW, der mit seiner Großspende von einer Million Euro Niedersachsen aus der Patsche bei der Finanzierung des rund 4,4 Millionen Euro teuren Festes geholfen hat, präsentiert seine neuesten Hybrid- und E-Mobil-Modelle. Die Menschenmassen schieben sich durch die Zelte der 16 Bundesländer, genießen deren kulinarischen Angebote von nordischen Fischspezialitäten bis hin zum schwäbischen Maultaschen-Burger. Die angestrebte Marke von 500.000 Besuchern scheint nach dem schleppenden Start am Vortag kein Problem mehr zu sein. „Eine super Feier“, schwärmt Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier, als er mit einem symbolischen Schlüssel den Bundesratsvorsitz von seinem Kollegen Weil übernimmt. „Da müssen wir uns im nächsten Jahr ganz schön anstrengen.“