Kirchentag in Berlin: Das Comeback des Barack Obama
Verträgt sich das? Die Radikalität der Religion mit der des Regierens? Barack Obama hat darauf beim Kirchentag nicht immer eine Antwort. Aber eine klare Botschaft – auch für seinen Nachfolger.
Heinrich Bedford-Strohm versteht gar nicht, wieso plötzlich dieses Kichern aufkommt – bis er nach links guckt. Links von ihm auf der großen Tribüne vor dem Brandenburger Tor zieht Angela Merkel einen gestrengen Flunsch. Der evangelische Ratsvorsitzende ist sich aber keiner Schuld bewusst. Was war jetzt falsch an dem Satz, mit dem er sich an Barack Obama gewandt hat? „Wenn jetzt schon mal der lange Zeit mächtigste Mann der Welt neben mir sitzt ...“ Falsch war die politische Geographie. „Ich hab’ so geguckt“, erläutert die Kanzlerin, „weil, neben Ihnen sitze ja jetzt erstmal ich!“ Das Kichern geht in Gelächter über unter den 70 000, die gekommen sind, um einen politischen Popstar zu erleben. Die deutsche Regierungschefin ist für sie eigentlich eher Beiprogramm. Auch wenn sie Macht hat und er die Macht hinter sich. Trotzdem, solche Massen bewegt nur der Privatmann auf dem zweiten Stuhl links von Bedford-Strohm, der bis grade der 44. Präsident der Vereinigten Staaten war.
First of all: Guten Tag!
Die ersten haben sich tief in der Nacht aufgemacht, um einen guten Platz zu ergattern, von dem aus sie Obama direkt sehen können und nicht nur auf einem der riesigen Bildschirme auf der Straße des 17. Juni. Ein „sehr charismatischer Mensch, der viel zu sagen hat“ sei der Ex-Präsident, sagt Eva Engelter aus Mannheim. „Live ist live“, fasst Anne Evers aus Wangerland knapp zusammen, die es nach weit vorne geschafft hat und ihren Enkeln hinterher erzählen will.
Als er kommt, bricht tosender Jubel los. Bevor er das erste Wort sagen kann, rufen Leute schon „Zugabe!“ Das ist aber natürlich nicht theatralisch gemeint, sondern politisch. Seit der Andere im Weißen Haus das tut, was er für regieren hält, weiß man im alten Europa erst so richtig, was man an seinem Vorgänger hatte. „First of all: Guten Tag!“ sagt Obama. Der Jubel geht ins Frenetische über. Ein Fan schwenkt ein Pappschild: „Du bist ein Berliner!“ In der einstigen Frontstadt des Kalten Krieges wissen noch viele, was sie an Amerika haben? Oder muss man fürchten: hatten?
Der Andere war ja gerade erst beim Papst. Franziskus hat ihm ein Exemplar seiner Umweltenzyklika „Laudati si“ geschenkt. Vielleicht lässt er sich wenigstens vom Oberhaupt der Katholiken sagen, dass der Klimawandel existiert und Menschenwerk ist? Auch Merkel wird den Anderen nachher treffen; direkt nach dem Auftritt beim evangelischen Kirchentag fliegt sie zum Nato-Gipfel nach Brüssel, am Freitag gleich weiter nach Taormina auf Sizilien zum G7-Gipfel, wo Donald Trump schon wieder auf sie wartet. Was für ein Kontrastprogramm! Aber über die Qualität des irdischen Spitzenpersonals hat sich schon der Doktor Martin Luther keiner Illusion hingegeben: „Du sollst wissen, dass es von Anbeginn der Welt gar ein seltener Vogel ist um einen klugen Fürsten, noch viel seltener um einen frommen Fürsten“, urteilte der Reformator vor 500 Jahren in seiner Schrift „Von weltlicher Obrigkeit.“
Ist der lockere Typ auf der Tribüne so ein seltener Vogel? Das Verhältnis der Deutschen zu dem Amerikaner war immer ambivalent, schwankend zwischen Verehrung für einen hinreißenden Redner mit besten Absichten und der Skepsis gegen einen Politiker, der den Friedensnobelpreis bekam, ohne dass ihm ein realer Frieden gelang. Als er zuletzt hier war – auch auf einer Tribüne, auf dem Pariser Platz auf der anderen Seite des Tors, auch neben Merkel – war gerade rausgekommen, dass der Geheimdienst des edlen Menschen aus Washington das Handy der Kanzlerin abhörte.
Als er "Amazing Grace" sang, war das mehr als Inszenierung
Also, um mit der ersten, besonders wichtigen Frage auf einem Evangelischen Kirchentag anzufangen: Ist er ein frommer Fürst? Obamas Biographen haben beschrieben, dass Religion ein wichtiges Element war auf dem Weg des 55-Jährigen früheren Chicagoer Sozialarbeiters in die Weltpolitik. Als er vor zwei Jahren in der Trauerfeier in der Kirche in Charleston, in der ein junger Fanatiker acht Afroamerikaner erschossen hatte, zum Schluss „Amazing Grace“ anstimmte, das Lied über die Hoffnung in dunklen Tagen, da ließen noch die Fernsehbilder erkennen, dass da sehr viel mehr war als Inszenierung.
„Ich versuche bescheiden zu sein, wenn es um den Glauben geht“, antwortet Obama jetzt der Schweizer Theologin Christina Aus der Au, die sich mit dem EKD-Chef die Moderation teilt. „In meinem eigenen Glauben denke ich, dass es gut ist, immer ein bisschen zu zweifeln.“ In der Politik, fügt er an, ist es erst recht wichtig. Wer die Kompromisslosigkeit in Glaubensfragen in die Politik übertrage, richte damit Verheerungen an: „Wenn ich alleine recht habe und gar nicht glaube, dass andere auch den Willen Gottes verkörpern, ist die Folge oft große Grausamkeit.“
Merkel sieht das sehr ähnlich. Die Pfarrerstochter hat auch nie viel hergemacht von ihrer Religion; „erstmal mein Glaube“ sei das, Privatsache. Aber nicht ohne Einfluss aufs Politische: „Es gibt etwas über mir, in mir, das mich als ein Geschöpf Gottes bestehen lässt, mit Fähigkeiten, aber endlichen Fähigkeiten.“ Ob er das richtig verstanden habe, fragt Bedford-Strohm: Die Quintessenz des Glaubens in der Politik liege in dem Satz, dass der andere auch recht haben könnte? Merkel nickt: „Ich würde sagen, ist weitestgehend richtig.“ Obama fügt ein Einerseits-Andererseits dazu. Die Christen, die seinerzeit in seinem Land gegen die Sklaverei aufgestanden seien, hätten dafür schon eine „rechthaberische Wut“ gebraucht. Aber ansonsten, ja: „Gott spricht nicht durch uns allein.“
Womit die Veranstaltung ihr Zentrum gefunden hat. Denn im Grund dreht sich die Diskussion in diesen eineinhalb Stunden am Donnerstag immer wieder um den gleichen Punkt, egal ob Bedford-Strohm und Aus der Au ihre Fragen stellen oder später vier Jugendliche, je zwei Deutsche und zwei Amerikanerinnen. Wie verträgt sich das: Die Radikalität der Religion mit der Realität des Regierens, das eigentlich Gute mit dem eigentlich Bösen, die Verantwortung vor Gott mit der Verantwortung vor den Menschen?
Oder, um es konkret auf Bedford-Strohms zentrales Anliegen zu bringen: Wie kann die gleiche Politik, die vor zwei Jahren hunderttausenden Flüchtlingen die Grenze öffnete und sich über das Engagement hunderttausender Deutscher freute – wie kann diese gleiche Regierung mit der gleichen Chefin jetzt auf einmal Menschen in Gegenden wie Afghanistan abschieben, wo ihnen Gefahr an Leib und Leben drohe?
Viele der Zuschauer arbeiten in der Flüchtlingshilfe
Ein schwieriges Thema, sagt Merkel. Sie sagt nicht dazu: Besonders jetzt und hier. Ist aber so. Von den 70.000 da unten arbeiten viele, sehr viele in der Flüchtlingshilfe. Wahrscheinlich gehören etliche zu denen, aus deren Briefen der EKD-Chef berichtet: Menschen, deren Schützlinge Deutsch gelernt und eine Ausbildung angefangen und überhaupt sich bestens um Integration bemüht haben – und dann kommt die Ausreiseverfügung.
Ein sehr schwieriges Thema, sagt Merkel. Ein Dilemma. „Ich weiß, dass ich mich damit nicht beliebt mache.“ Aber Hilfe könne eben nur bekommen, wer sie wirklich brauche, und die Gegenfrage sei auch berechtigt: „Warum macht der Rechtstaat eine Ausnahme nach der anderen?“ Immerhin gebe es inzwischen Sonderregelungen für junge Flüchtlinge in Ausbildung. Und von den 150.000 Afghanen, die 2015 gekommen seien, seien keine 1000 zurückgeführt worden. Und man bemühe sich um sachgerechte Lösungen.
Obama hat aufmerksam der Übersetzung in seinem Ohrhörer zugehört. Jetzt springt er der Frau bei, die er in seiner Begrüßung „eine meiner liebsten Partnerinnen“ in seiner Präsidentenzeit genannt hat. Als Bedford-Strohm bei der Obama-Stiftung angefragt hat, ob der Ex-Präsident dem Kirchentag seinen Glanz verleihen will, hat der unter der Bedingung zugesagt, dass Merkel mit auf der Tribüne ist. Hinter den Kulissen hat das für ein gewisses Stirnrunzeln gesorgt, insbesondere bei Menschen mit sozialdemokratischem Parteibuch. Die murmelten etwas von kostenlosem Wahlkampfauftritt für die CDU-Vorsitzende und hätten es lieber gesehen, wenn zumindest ihr seinerzeitiger Teilzeit-Messias Martin Schulz mit auf die Bühne gedurft hätte. Darf er aber nicht. Bei der CDU zucken sie mit unschuldiger Miene die Schultern: Was können sie denn dafür, dass Obama die Chefin nun mal mag?
"Ich verstehe auch Angela", sagt Obama
Also, um zur konkreten Hilfestellung zurückzukommen: „Ich verstehe hier auch Angela“, sagt Obama. Auch sein Land hat eine Debatte über Fremde, nicht aus Syrien oder Afghanistan, sondern aus Mexiko und anderen Ländern Lateinamerikas. Auch in seinem Land klafft dieser Widerspruch zwischen dem, was man als Christ und Mensch gerne hätte und dem, was geht. „Der Kampf, den ich geführt habe, den auch Frau Merkel geführt hat, ist, dass den Augen Gottes das Kind auf der anderen Seite der Grenze genau so viel Liebe und Mitgefühl verdient wie ein Kind auf unserer Seite der Grenze“, sagt er. „Aber wir sind eben auch Staatschefs von Ländern, und wir haben eine Verantwortung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern innerhalb unserer Grenzen.“ Und außerdem, die Mittel seien endlich.
Barmherzigkeit hier, rechtliche Grenzen da, Verantwortung für die eigenen Bürger – das geht nie glatt auf. „Wir werden es nicht schaffen, über Nacht das Leid zu beenden“, sagt Obama. Dass man es aber trotzdem versuchen müsse, den Menschen in ihren eigenen Ländern zu helfen, schon aus Eigeninteresse in einer offenen Welt: „Wir können uns nicht hinter einer Wand verstecken.“
Die Zuhörer applaudieren, schon weil sie zu verstehen glauben, wer da gemeint ist: Der mit der Wand, der mit der Mauer aus Beton, dieser Andere. Der, in dessen Augen das Kind auf der anderen Seite nichts wert ist, weil es für ihn auf der falschen Seite steht, ein Mann ohne Zweifel. Kurz, einer von der Sorte, die der Doktor Martin Luther im Sinn gehabt hat bei seiner Charakterisierung der Normalfürsten: „Sie sind im Allgemeinen die größten Narren oder die ärgsten Buben auf Erden; weshalb man bei ihnen allezeit auf das Ärgste gefasst sein muss.“
"Seien Sie stolz, be proud!", sagt Merkel
Womit das zweite große Thema dieser eineinhalb Stunden aufgerufen wäre: die Vergeblichkeit – und die Hoffnung. Imani Abernathy ist eine junge Sängerin aus Chicago, aber sie zweifelt ein bisschen an sich selbst. Wie sie die Kluft überwinden solle zwischen der Kunst und ihrem Engagement als Bürgerin, will sie von ihrem Ex-Präsidenten wissen. Obama lächelt. Kunst! Großartig! Und jung dazu! „Engagieren Sie sich, das ist entscheidend!“ Die meisten Helden der Menschheit hätten in jungen Jahren gewirkt – Martin Luther King, oder, nicht vergessen: „Jesus Christus war nur kurze Zeit auf Erden, aber er hat die Welt verändert!“ Geduld brauche das, Zähigkeit, die Fähigkeit, mit Rückschlägen umzugehen: „Jedes Mal, wenn Sie gegen Intoleranz aufstehen, verbessern Sie die Welt.“ Jetzt ist es an Merkel, dem Amerikaner beizupflichten. Singen zum Beispiel, sagt die Kanzlerin, könne sie überhaupt nicht. Aber das ist doch schön, dass alle so verschieden sind. „Seien Sie stolz, be proud!“
Am Nachmittag wartet Reccep Tayyip Erdogan
Dann ist die Zeit um. Bedford-Strohm will nur noch schnell wissen, was ein Ex-Präsident mit gerade 55 Jahren als nächsten Job anstrebe – ob da grade eine Bewerbung laufe? Obama grinst lausbübisch. „Lassen Sie’s mich wissen, wenn Sie was Passendes wissen.“ Nein, im Ernst, er will jetzt erst noch mal ein bisschen Schlaf nachholen, und danach mit seiner Stiftung „ein guter Trainer“ werden für die Jungen, die den Stab weitertragen müssen. Was die Menschen vor dem Brandenburger Tor angeht, scheint die Botschaft angekommen. „Er ist mein Held“, sagt Carolin Sahli. Um 3 Uhr früh ist die junge Frau zusammen mit ihrer Mutter aufgebrochen. Den Mann einmal live zu erleben, sei ein Traum gewesen. Angela Merkel habe man angemerkt, dass sie schon im Wahlkampfmodus sei. Da könnten sich also die erwähnten Inhaber sozialdemokratischer Parteibücher bestätigt sehen. Aber die junge Hannoveranerin meint etwas anderes: „Sie war wesentlich lockerer als sonst!“ Jedenfalls wesentlich lockerer als nachher in Brüssel, wo schon Recep Tayyip Erdogan wartet, von dem Anderen zu schweigen.
Doch wie schrieb Luther? „Die Welt ist zu böse und nicht wert, dass sie viele kluge und fromme Fürsten haben sollte. Frösche müssen Störche haben.“