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In milderem Licht. Der Rote Platz in Moskau.
© David Mdzinarishvili/REUTERS

Diplomatische Eskalation nach Giftanschlag: Das Band zu Russland darf nicht abreißen

Statt sich vom windigen Boris Johnson leiten zu lassen, braucht es im Verhältnis zu Russland gerade Vertrauen. Sonst zerbricht Europa. Ein Gastkommentar.

Ein Kommentar von Johann Michael Möller

Niemand kann heute mehr sagen, wann der imaginäre Zeitpunkt wohl überschritten war, an dem sich die Urkatastrophe Europas, deren Ende wir in diesem Jahr gedenken, noch hätte abwenden lassen.

Wahrscheinlich hat es einen solchen Zeitpunkt nie gegeben. Aber er wäre in seiner furchtbaren Folgenhaftigkeit den Zeitgenossen auch verborgen geblieben. Für sie hat der australische Historiker Christopher Clark das Wort von den Schlafwandlern geprägt hat. Man darf es auf unsere Verhältnisse nicht einfach übertragen.

Die heutigen Zeiten sind andere geworden. Und doch überkommt einen in diesen Tagen die bange Frage, ob wir uns in unserem Verhältnis zu Russland nicht längst auf einem abschüssigen Weg bewegen, dessen Rutschgefahr wir nicht spüren. Denn die fast beiläufige Geschäftsmäßigkeit, mit der sich derzeit eine westliche Allianz gegen Putin formiert, um eine neue Demarkationslinie gegenüber Russland zu ziehen, lässt einen nicht schlafen.

Natürlich hat Wladimir Putin alles getan, um die alten Ängste des Westens zu wecken. Es gibt kein Argument, das seine Völkerrechtsverstöße oder seine Cyberattacken in irgendeiner Form rechtfertigen könnte. Trotzdem darf sich die westliche Antwort darauf nicht in einer Eskalationsspirale verfangen, die aus ganz anderen Motiven befeuert wird.

Denn diesen Verdacht muss man bekommen, wenn man die innenpolitisch mit dem Rücken zur Wand stehende Theresa May agieren sieht und dabei eine europäische Kernfamilie beobachten kann, die ihre an den Brexit verlorene Tochter plötzlich wieder in die Arme zu schließen hofft. Für solche Art der Familienzusammenführung ist die Lage zu ernst.

Es geht um eine schicksalhafte Frage

Es kann ja tatsächlich sein, dass alle geheimdienstlichen Erkenntnisse im Falle des mörderischen Attentats von Salisbury nach Russland und womöglich in den Kreml weisen. Ein solcher Giftstoff hinterlässt, das kennen Experten, seine Spur. Nur: Wir wissen es nicht. Oder genauer gesagt: Die Öffentlichkeit weiß es nicht und kann sich deshalb kein eigenes Urteil bilden. Sie muss darauf vertrauen, was man ihr sagt. Und der windige Boris Johnson wird plötzlich zum Kronzeugen. Bei allem Verständnis: das ist keine Grundlage für eine solche Demonstration und das schafft kein Vertrauen.

Denn inzwischen geht es nicht mehr nur um Handelssanktionen oder die Umsetzung des Minsker Abkommens, sondern um die schicksalshafte Frage, wie die Völker in Europa künftig zusammenleben wollen – fast dreißig Jahre nach dem Fall der Mauer.

Russland ist ein Teil Europas. Und das sollten gerade wir Deutschen wissen. Jetzt rächt sich bitter, dass es in diesen dreißig Jahren nicht gelungen ist, die Zivilgesellschaften einander näher zu bringen, Freundschaften zu schließen und das Wissen voneinander zu mehren, so wie das im Westen nach dem Krieg gelebte Selbstverständlichkeit war. Um das deutsch-französische Verhältnis braucht man sich keine Sorgen zu machen, so lange Lebensart und Literatur, Reisen und Essen zum gemeinsamen Bildungserlebnis vieler Menschen gehören.

Für Russland gilt das noch lange nicht. Das Land und seine Menschen sind uns Deutschen fremd geblieben, vor allem denen im Westen. Die notwendigen Beziehungen werden ein paar unverdrossenen Freunden überlassen und Geschäfte macht man ja ohnehin. Was für ein Armutszeugnis! Welcher Unterschied zu den Russen, für die Deutschland immer noch ein Sehnsuchtsland ist.

Das deutsch-russische Verhältnis war immer besonders

Wie wenig wir von unseren östlichen Nachbarn wissen, zeigt die so hingeplapperte Formel vom Kalten Krieg, an die sich diejenigen erinnert fühlen, die Russland meist nur von Weitem kennen. Eine solche Wiederholung der Geschichte ist schon deshalb unwahrscheinlich, weil es die alte, formierte, gesichtslose Gesellschaft aus Sowjetzeiten gar nicht mehr gibt. Die jungen Russen sind längst in der globalen Welt angekommen. Das dreht keine Funktionärsbürokratie mehr um. Putin bedient zwar die alten ideologischen Muster; aber daneben gibt es im russischen Alltag eben noch sehr vieles mehr. Das ist selbst den berufsmäßigen Kremlastrologen nicht verborgen geblieben.

Außer dem Machtgehabe Putins müsste uns deshalb eine weitere Entwicklung Sorgen machen: die große Enttäuschung vieler Russen nach Jahrzehnten einer beispiellosen Umwälzung ihrer Gesellschaft. Sie hatten sich dem freien Europa einst zugewandt voller Neugier und voller Hoffnung auf eine bessere Zukunft; und sie fühlen sich heute zurückgestoßen von dieser westlichen Welt.

Darin liegt unsere besondere deutsche Verantwortung in diesen verheerenden Zeiten: Dass wir nicht vergessen, wem wir die Wiedervereinigung unseres Landes ganz entscheidend mit zu verdanken haben und dem Wissen darum, dass das deutsch-russische Verhältnis immer ein ganz besonderes war.

Es geht nicht um die gerne bemühte Freundschaft zu Putin oder das Schönreden seiner Machtpolitik. Es geht um die ganz schlichte Frage, ob und wie wir das neuerliche Auseinanderbrechen Europas verhindern wollen. Die plötzliche Allianz um Großbritannien ist nichts wert, wenn der östliche Teil des Kontinents dadurch verloren geht.

Doch das Kräftemessen hat jetzt begonnen. Wo sind aber die europäischen, wo die gewichtigen deutschen Stimmen, die sich dieser Eskalation widersetzen? Damit wir nicht eines Tages wieder aufwachen und uns fragen müssen, wann der Zeitpunkt wohl gewesen wäre, als man den unsäglichen Lauf dieser Dinge noch hätte stoppen können.

Der Autor ist Koordinator der Arbeitsgruppe Medien des Petersburger Dialogs und ehemaliger Hörfunkdirektor des MDR.

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