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Genosse der Bosse: Gerhard Schröder.
© dpa

Zum 70. Geburtstag von Gerhard Schröder: Das Alpha steht immer an erster Stelle

Er pfeift auf das, was andere sagen. Da ist er unkonventionell geblieben. Sein Erbe? Die Agenda 2010. Freunde sagen das. Und Gegner auch. Der Rest ist wie immer bei Gerhard Schröder: so oder so. Auch mit 70.

Ein gemachter Mann. Der Anzug: allererste Qualität. Die Schuhe: exquisit, und gut geputzt dazu. Die Krawatte nicht zu keck. In den Haaren „Schneegestöber“, wie die Friseure sagen, weiße Haare, die das dunkle wie Fäden durchziehen. Üppige Brauen, darunter diese Augen, die man zu kennen glaubt: blaublau. Vielleicht ein wenig trüber sind sie geworden, nicht mehr ganz so strahlend wie ein Scheinwerfer. Und dann dieser Unterkiefer, der vorgeschoben wird, wenn er sich entweder langweilt oder anschickt, einzugreifen, anzugreifen, eine dieser schnappenden Bemerkungen zu machen, mit denen er sein Gegenüber je nach Wahl testet oder einschüchtern will. Wehe dem, der nicht schnell genug pariert, in des Worts zweifacher Bedeutung: der entweder kuscht oder Kontra gibt. Dazwischen geht nichts, nicht bei Gerhard Schröder.

Testosteron nach außen getragen

Der Mann, der so gerne die „Neue Mitte“ propagierte, kann Mitte nicht so gut. Er hat diese Mitte nicht. Er ist, auf seine Weise, extrem wie es Joschka Fischer ist, und deswegen passten die zwei auch eine Weile gut zueinander, der Ober-Sozi und der Ober-Grüne. Zweimal Alpha, zweimal Männer, nur bei Schröder war das Testosteron noch mehr nach außen getragen. Und wo soll da die Mitte herkommen, Mitte als Maß? Mittelmaß geht schon gar nicht, das hat er doch auch tatsächlich einmal einem Politikerkollegen gesagt, und nicht dem schlechtesten: Peter Struck, nachmalig sein Verteidigungsminister. Einer, den die Truppe bis heute vermisst. Ihm also hatte Schröder – nach zurückgeschnapptem Unterkiefer – das „Kartell der Mittelmäßigkeit“ entgegengeschleudert, als das er die SPD-Fraktion ansah. Und Struck? Der knurrte damals nur kurz zurück und merkte es sich lang, für die noch folgende Zeit. Jahre später hat Schröder dann einen Satz dahergesagt, der so klang wie eine Art Entschuldigung. Das Alpha steht aber immer an der ersten Stelle.

Er hat es weit gebracht

Ein gemachter Mann, ja, es wird ihm sogar gefallen, wenn man das über ihn sagt. Wenn man seinen Lebensweg betrachtet, erst recht. An seiner Wiege war nicht gesungen, dass er einmal Bundeskanzler werden würde. Oder Ministerpräsident. Und er wurde doch beides. „Der Niedersachse“ wird er genannt, dabei ist er Lipper, aus Mossenberg. Die Lipper waren schon immer ein eigenwilliger Menschenschlag. Seine Mutter hat ihn als Putzfrau und als Dienstmädchen durchgebracht, sein Vater ist im Krieg gefallen. Er hat inzwischen ein Bild von ihm. Die Verhältnisse, in denen er aufwuchs, karg zu nennen, wäre noch übertrieben. Schröder kommt aus einer Behelfsbaracke am Rande des Fußballplatzes von Wülfer-Bexten; „aus dem Kohlenkasten“, wie man früher sagte. Er hat es weit gebracht. Nicht nur zu einem Humidor für seine Zigarren – zu vielen. In seinem Kanzlerbüro standen drei davon.

Baselitz, Lüpertz, Immendorff, Bremer, Strawalde, Fetting – die Künstler, die er mag, deren Werke kennt er auch. Das sind die Bücher, die er liest, wirklich. Die er verschlingt, sich einverleibt. Wer es nicht glaubt, muss ihn nur fragen, ihn zu testen wagen, dann kann er was erleben. Er beherrscht den Stoff, da soll sich keiner täuschen. Er weiß, wie man sich wo hineinarbeitet, hinausarbeitet, hinaufarbeitet, und zwar dorthin, wo es schwierig wird, ihm zu folgen. Nie würde er seinen Ehrgeiz bemänteln. Warum auch, er hält das für eine gute Eigenschaft. Dass er nicht nur ein Zupackender ist, sondern auch zögerlich, ein Suchender – was soll’s, das muss nicht jeder wissen. Ein Mann will nach oben? Soll er doch! Da tritt es dann hervor, sein eigenes Maß: dass er alles, ja doch, beherrschen will. Nur bei sich selbst macht er schon mal eine Ausnahme.

Bauhilfsarbeiter war er, Lehrling, „Ladenschwengel“ bei einem Eisenwarenhändler, er schaffte und schaffte, die Mittlere Reife, das Abitur, das Jura-Studium, wurde Rechtsanwalt. Was für ein Weg. Und Fußball spielte er auch so, wie er das andere machte: Stürmer war er, natürlich Mittelstürmer, nicht mit der feinsten Technik, aber mit hartem Schuss und Abschlusshärte. Bloß nicht verlieren! Der Spitzname ist Programm, ein Leben lang: „Acker“. So einer ist nicht zimperlich, jedenfalls nicht mit anderen. Der steckt ein und teilt aus und respektiert den, der das auch kann. Sigmar Gabriel zum Beispiel, den heutigen SPD-Chef und Vizekanzler, den respektiert er. Der hat schon eine Menge eingesteckt, einstecken müssen, auch von ihm. Gabriel hat eine Landtagswahl, seine Wiederwahl als Ministerpräsident, auch wegen Schröder verloren. Aber er hat ihm, als Schröder damals in Hannover mal wieder schröderte und Gefolgschaft verlangte, widersprochen, laut sogar, ist dann aufgestanden und gegangen und hat die Türe geknallt. Das hat dem doch irgendwie gefallen. Später hat Schröder, auf seine mögliche Nachfolge angesprochen, mal gesagt: „Das muss dann der Dicke machen.“ Ja, so ist er. Hart und nicht immer herzlich. Unter Männern. Frauen sind eine andere Geschichte. Eine ziemlich sentimentale.

Familienpolitik mal anders

Schröder ist dreimal geschieden, und vielleicht ist das auch ein Berührungspunkt mit Joschka Fischer. Der hat jede Frau, die er zu lieben glaubte, geheiratet. Bis dann die Liebe erlosch. Oder im Falle Schröders: bis er sich bevormundet fühlte. Denn das ist seine andere Seite: Die Frauen, die mit ihm leben, müssen stark sein. Doris Schröder-Köpf ist es, ganz besonders. Zierlich wirkt sie nur – sie ist durchsetzungskräftig. Doris Schröder macht jetzt politisch Karriere, sitzt für die SPD im niedersächsischen Landtag, ist Integrationsbeauftragte.

Mit Ehefrau Doris Schröder-Köpf.
Mit Ehefrau Doris Schröder-Köpf.
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Und er schaut zu. Eine völlig neue Erfahrung für ihn. Heute muss er einkaufen und die Kinder hierhin und dorthin bringen, die beiden Kinder, die sie adoptiert haben. Das ist Familienpolitik mal anders. Um ihn mit seinen Worten zu schlagen: Er ist der Mann fürs Gedöns. Es gibt Beobachter, die bemerkt haben, dass er die Ausflüge in seine alte Welt genießt, wenn er mal wieder die „Agenda 2010“ verteidigen kann. Oder sich und sein Handeln über die Grenzen hinaus.

Über die Grenzen hinaus – auch die beiden Kinder, die aus Sankt Petersburg stammen, verbinden ihn mit Russland. Sankt Petersburg, wo Wladimir Putin politisch groß wurde. Putin, den sich Schröder nicht ausreden lässt, den er verteidigt, wo es nur geht. Auch wenn es nicht mehr geht. Das ist inzwischen zur Provokation geworden.

Heute würde Jean-Claude Juncker, der konservative Spitzenkandidat für die Europawahl, wohl nicht mehr sagen, dass die Freundschaft zwischen Putin und Schröder ein „Glücksfall“ sei. Sie war es, eine Zeit lang, und gewiss für Schröder, als der nach seiner Niederlage 2005, die ihn die Kanzlerschaft kostete, einen neuen Posten angeboten bekam: das Engagement für Nord Stream, die AG, die verbunden ist mit dem halbstaatlichen russischen Gasgiganten Gazprom. Dahinter steht Putin. Der Lohn der Freundschaft. Und 250 000 Euro als Vorsitzender des Aktionärsausschusses.

Der Genosse der Bosse, wie er genannt wurde, genießt heute seine Mandate. Nicht mehr das des Abgeordneten, das er mindestens zu Beginn, in den Achtzigern des vorigen Jahrhunderts, als einengend empfand, sondern die, die er aus der Wirtschaft gewann. Links? War er mal, wirklich. Frei ist er jetzt, hat er sich gemacht, von allem, was er als Zwang empfindet. Nur darin ist er unkonventionell geblieben: dass er, der gelernte Jurist, sich das Recht nimmt, auf das zu pfeifen, was andere für richtig halten, nämlich eine gewisse Zeit der Zurückhaltung. Der Mäßigung. Warum? Die Frage wird Schröder als Anmaßung empfinden.

Instinkt kann man nicht lernen, den hat man. Hat dieser Mann

Sie verbindet eine Freundschaft: Gerhard Schröder und Wladimir Putin.
Sie verbindet eine Freundschaft: Gerhard Schröder und Wladimir Putin.
© dpa

Das Befremden, das viele – und nicht nur in der SPD – empfinden, dass er so viel Wert darauf legt, jetzt richtig Geld zu verdienen, also das ist ihm fremd. Dabei weiß er es selbst am besten, wie das wirkt. Und wie er wirkt. Eben wie einer, der immer darum kämpft, nicht zu kurz zu kommen, den guten Brocken auf dem Teller zu bekommen. Kein schöner Zug, hat er schon Anfang der neunziger Jahre gesagt, aber was will er machen? Er will schon auch gemocht werden. Nur ist es so: Den Anzug kann man wechseln, aber keiner kann aus seiner Haut.

Darum war dieser eine berühmte Satz von ihm auch immer zugleich so schillernd: „Weil ich weiß, wo ich herkomme, weiß ich, wo ich hingehöre.“ Die Genossen, seine Genossen, verstanden, dass er einer von ihnen sei und immer bleibe. Sie wollten es auch so verstehen. Aber mindestens jetzt gehört er woanders hin. Er hat es ja allen gezeigt, so wie er es immer wollte. Soll ihn keiner herausfordern, er nimmt jede Herausforderung an. Den einen wollte er zeigen, dass er regieren kann; das waren die, die wie weiland Hans-Jochen Vogel immer genauer wissen wollten, wofür er die Macht haben will. Jetzt will er als Kanzler nicht unterbewertet werden. Den anderen, denen mit dem goldenen Löffel, denen kann er heute auch was vorzeigen: eine Stadtvilla in Hannover, Feriendomizile auf Borkum und bei Bodrum in der Türkei, dazu Kunst und andere Kultur, unter anderem Weinkultur. Er hat immer schon schwere Rotweine geliebt.

Er mag den Scheinwerfer

Was ist sein Erbe, darüber hinaus? Seine Freunde sagen: die Agenda 2010. Seine Gegner sagen das auch. Und Forschungsinstitute sind sich uneins. Richtig bleibt, dass der Regierungschef – bedrängt, wie seine Regierung damals war – Deutschland gezeigt hat, dass es sich verändern, dass es Neues wagen kann. Das ist das unstreitig Gute. Der Rest ist wie immer bei Schröder: so oder so, und meistens extrem unterschiedlich. Er nimmt es hin, gerne sogar. Er mag den Scheinwerfer. Nur ist nicht erinnerlich, dass er ein Mal denen öffentlich gedankt hätte, die ihm dazu verholfen haben, dass er als Kanzler plötzlich als prinzipienfest galt. So war er bis dahin nämlich nicht angesehen. Das war, bis sein „Mach mal“, Frank-Walter Steinmeier, und besonders dessen Planungschef Stephan Steinlein im Kanzleramt grundlegende Gedanken für eine politische Neuorientierung formulierten, das „Kanzleramtspapier“. Das war der Vorläufer der Agenda, gewissermaßen ihre Urform. Die erregte bei der Veröffentlichung schon Aufsehen genug, mit ihren Forderungen nach einer Generalüberholung der Sozialsysteme, Einschnitten bei den Renten, mehr Wettbewerb bei den Kassen. Aber das ist Geschichte, und in die geht Schröder mit einigem Glück ein als der, der den besten Instinkt hatte. Und der, sagt Schröder, ist mindestens so wichtig wie der Verstand.

Instinkt, den kann man nicht lernen, den hat man. Hat dieser Mann. Schröder wusste, dass das Kanzleramtspapier seinerzeit das Ende aller Beliebigkeit bedeutete, das Ende aller vermuteten Prinzipienlosigkeit. Es war mehr als ein Papier, nicht so wie vorher das mit dem britischen Labour-Chef Tony Blair zur „Neuen Mitte“ und dem „Dritten Weg“. Nein, das jetzt war sein Weg. Darum mussten auch alle aus dem Weg, die ihn den nicht gehen lassen würden.

Kein Mann der Ironie - aber der Schlagfertigkeit

Der alte Gefährte Oskar Lafontaine war da schon weg. Die Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet Lafontaine mit vielem aus ihren Diskussionen recht behalten hat, bis hin zum Weltfinanzsystem – das wird Schröder auch heute nicht beschweren. Er ist ja auch weniger ein Mann der Ironie als der Schlagfertigkeit. Darin ist kaum einer schneller als er.

Und er hatte den Instinkt bei Angela Merkel. Er wusste es vor allen: Wenn eine Frau, wenn diese Frau, einmal regieren würde, dann würde es schwer werden für die SPD mit einer Rückkehr an die Macht. Wie sie angreifen, womit? Angreifen mit Härte, gegen diese Frau, die dann Regierungschefin sein würde? Weil er es wusste, oder mindestens ahnte, ging er so dermaßen hart ran in der sogenannten Elefantenrunde im Fernsehen, als er Merkel den Anspruch aufs Kanzleramt bestritt.

Einen Beleg gibt es bis heute nicht, aber Hinweise, dass Schröder auch in den Gesprächsrunden nach der im Fernsehen versuchen wollte, sie als Kanzlerin zu verhindern. In den Gesprächsrunden hinter geschlossenen Türen, ohne Live-Übertragung, in denen es zur Sache gehen sollte.

So war es: Schröder verzichtete auf ein Regierungsamt – manche sahen ihn als Außenminister –, wurde aber Mitglied der Verhandlungsdelegation für die erste große Koalition. Da saß er, den Unterkiefer vorgeschoben, und verfolgte seine Ziele: Steinmeier als Außenminister und Sachwalter seiner Außenpolitik, den Fortbestand seiner politisch teuer erkauften Agenda 2010 – und dass Angela Merkel wie er verzichten würde. Ja, er hatte nicht gewonnen. Sie aber auch nicht, ihr Ergebnis war wie eine Niederlage gewesen und Merkel deshalb parteiintern bei den Christdemokraten weiß Gott nicht unumstritten. Und so hätte es kommen können, dass … – aber da war noch Franz Müntefering als SPD-Chef, und es kam anders. Von einer großen Freundschaft zwischen den beiden ist bis heute auch nichts weiter bekannt geworden.

Ein gemachter Mann. Jetzt wird er 70. Da ist mit Enthüllungen nicht zu rechnen. Die Enthüllung einer Büste in der SPD-Zentrale – kommt später. Vielleicht. Noch ist dafür nicht die Zeit.

Dieser Text erschien auf der Reportageseite.

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