Terror der Boko-Haram-Sekte in Nigeria: Das afrikanische Kalifat
Die Terrormiliz Boko Haram hat die Zahl ihrer Kämpfer offenbar auf 10.000 verdoppelt und kontrolliert ganze Landstriche. Nigerias Regierung ist überfordert – und überwirft sich nun auch noch mit dem Waffenlieferanten USA.
An vollmundigen Ankündigungen hat es in Nigeria noch nie gemangelt. Auch jetzt, wenige Wochen vor den Präsidentschaftswahlen im Februar, soll sich die Lage trotz der aus dem Ruder laufenden Gewalt mal wieder zum Besseren wenden: Finanzministerin Ngozi Okonjo-Iweala, die seit langem die internationalen Medien für das schlechte Image ihres Landes verantwortlich macht, ist überzeugt davon, dass Nigeria seine vielen Probleme „doch noch irgendwie in den Griff kriegt“. Auch Präsident Goodluck Jonathan sprach zumindest bis vor wenigen Tagen noch gerne von einem „Gezeitenwechsel“ und gab sich zuversichtlich, die teilweise seiner Kontrolle entglittenen Bundesstaaten im Nordosten doch noch in den nigerianischen Staatenbund zurückzuführen.
Die Regierung hat das Land längst nicht mehr unter Kontrolle
Das in seiner Dimension schier unfassbare Massaker der islamistischen Terrorsekte Boko Haram in der vergangenen Woche scheint nun jedoch selbst bei Jonathan größere Zweifel an seiner stets zur Schau getragenen Zuversicht geweckt zu haben. Angesichts der immer willkürlicheren Gewalt der Islamisten zeigte er sich am Wochenende sprachlos – und demütig.
Selbst unter den inzwischen weitgehend an die Gewalt gewöhnten Nigerianern herrschen Lähmung und Resignation vor. Mehrere hundert Menschen, womöglich sogar mehr als eintausend, sollen nach Augenzeugenberichten bei verschiedenen Überfällen in der vergangenen Woche in und nahe der Stadt Baga am Tschadsee von Islamisten ermordet worden sein. Sicher ist, dass es sich dabei um den bislang mit Abstand schwersten Anschlag der „afrikanischen Taliban“ handelt, die seit Jahren gegen eine vermeintliche „Verwestlichung“ des Landes kämpfen.
Die Sekte will ein Kalifat nach Vorbild des „Islamischen Staates“
Sie wollen ein Kalifat nach Vorbild des "Islamischen Staates" (IS), in dem die Scharia gelten soll. Dass die genaue Zahl der Opfer der jüngsten Gewaltorgie der Terrorgruppe bislang nicht bekannt ist, liegt daran, dass Boko Haram das von ihr offenbar völlig niedergebrannte Baga im Bundesstaat Borno noch immer kontrolliert – und sich niemand dorthin wagt.
Die Kontrolle über den Nordosten Nigerias ist der Zentralregierung in Abuja nach Ansicht von Beobachtern nun endgültig entglitten. Die Eskalation der letzten sechs Wochen spricht jedenfalls für sich: Ende November hatten Dutzende Kämpfer von Boko Haram zunächst einen Anschlag auf eine Moschee in der zweitgrößten Stadt, Kano, verübt, bei dem mindestens 120 Gläubige getötet und fast 300 verletzt wurden.
Auch Minderjährige begehen für Boko Haram Selbstmordattentate
Kurz zuvor hatten sich zwei Selbstmordattentäterinnen, beide noch Teenager, in Maiduguri in die Luft gesprengt und dabei fast 50 Menschen mit in den Tod gerissen. Für ähnliches Entsetzen sorgte am Wochenende die Nachricht, dass sich nun ein wohl erst zehnjähriges muslimisches Mädchen an gleicher Stätte in die Luft jagte. Dabei kamen 20 Menschen ums Leben.
Wie kein anderer hat zuletzt vor allem der liberale Emir der angegriffenen Moschee von Kano der Empörung über die Zustände Ausdruck verliehen: Niemals, so schwor Mohammed Sansui II, werde man sich der Boko Haram beugen. Stattdessen müsse man alles versuchen, um dem Terror mit Bürgerwehren und anderen probaten Mitteln das Handwerk zu legen.
Der zweithöchste islamische Würdenträger des Landes kritisiert die Armee
Der zweithöchste islamische Würdenträger des Landes weiß, wovon er spricht: Unter seinem bürgerlichen Namen Lamido Sansui war der 53-Jährige bis zu seiner überraschenden Ernennung zum Emir im Juni lange Zeit Notenbankchef Nigerias und hatte sich mit seiner Geldpolitik, aber auch seinen klaren Worten gegen die tief in der Gesellschaft verwurzelte Korruption einen Namen gemacht. Vor einem Jahr war Sansui jedoch Knall auf Fall entlassen worden, vermutlich weil er die massive Veruntreuung von Geldern bei der nationalen Ölgesellschaft angeprangert hatte. Sansui nannte eine Summe von mehr als 20 Milliarden Dollar; am Ende gab die Regierung tatsächlich das Verschwinden von fast zwölf Milliarden Dollar zu.
Die Soldaten sind demoralisiert und fliehen bei Angriffen
Ebenso hart ging der Ex-Notenbankchef zuletzt mit der Unfähigkeit der Armee ins Gericht, den islamistischen Terror wirksam zu bekämpfen. Seit Monaten eskaliere die Gewalt nicht zuletzt deshalb, weil der Staat versage. Tatsächlich suchen Soldaten und Polizisten bei Angriffen oft das Weite und tauchen erst zu den Aufräumarbeiten wieder auf. Auch dem jüngsten Blutbad ging offenbar ein Versagen der Armee voraus, die beim Angriff der Islamisten auf ihre Kaserne die Flucht ergriff – und Baga schutzlos preisgab.
Die USA liefern keine Waffen mehr
Angesichts der von vielen Soldaten empfundenen Aussichtslosigkeit ihres Kampfes gegen Boko Haram ist die Armee demoralisiert, zumal die Terroristen über ein hochmodernes Waffenarsenal verfügen, die ihnen entweder von korrupten Offizieren in der Armee verkauft oder bei Überfällen auf Kasernen erbeutet wurden. Die Korruption in Militärkreisen und die immer wieder von Soldaten gegen die Bevölkerung verübte Gewalt erklärt auch, weshalb sich inzwischen selbst die Amerikaner weigern, Nigerias Streitkräften die gewünschten Waffen zu liefern. Als Reaktion auf diese Weigerung hat die Regierung in Abuja ihre erst zu Jahresbeginn aufgenommene Kooperation mit der US-Armee auf Eis gelegt. Eigentlich sollten die Amerikaner im gemeinsamen Kampf gegen den Terror ausgesuchte Einheiten der nigerianischen Armee zu diesem Zweck trainieren.
Boko Haram hat offenbar viele neue Mitglieder rekrutiert
Im Gegenzug hat Boko Haram offenbar viele neue Mitglieder rekrutiert. 10 000 aktive Kämpfer sollen es sein – doppelt so viele wie vor zwei Jahren. Ein wichtiger Grund für den hohen Zulauf und die Radikalisierung der muslimischen Jugend im Norden findet sich in dem anhaltend hohen Bevölkerungswachstum: Jedes Jahr werden in dem fast völlig vom Ölexport abhängigen Land sieben Millionen Kinder geboren – mehr als zehnmal so viel wie in Deutschland. Ihnen fehlen Arbeitsplätze und Perspektiven.
Kaum fünf Prozent der Frauen im Norden können lesen oder schreiben
Ein weiteres Problem ist die Ungleichheit. Wenn sie eigene Länder wären, würden die meisten der Nordprovinzen auf der internationalen Entwicklungsskala ganz unten rangieren, heißt es in einer neuen UN-Studie. Schätzungen gehen davon aus, dass fast 80 Prozent der Menschen im Norden unter der Armutsgrenze leben – doppelt so viele wie im Süden. Nirgendwo auf der Welt gehen auch so wenige Kinder zur Schule wie im muslimischen Norden. Kaum fünf Prozent der Frauen können hier lesen oder schreiben. „Boko Haram spiegelt eigentlich nur die tiefe Krise in unserem Land wider“, konstatiert ein früherer Ausbilder einer Militärakademie. „Und gegenwärtig scheint sich diese mit jedem Tag zu verschärfen.“