zum Hauptinhalt
Die Kirchentagsbühne vor dem Brandenburger Tor.
© REUTERS/Fabrizio Bensch

Kirchentag, AfD und Flüchtlinge: Darf ein Christ Angst haben vor dem Islam?

Ob Vertreter der AfD auf dem Kirchentag ein Podium bekommen sollen, war lange Zeit umstritten. Jetzt ist es so weit. Die Zeit scheint reifer geworden zu sein. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Es gibt kaum einen perfideren Vorwurf als den, mit einer bestimmten Meinung die Gesellschaft zu spalten oder den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu gefährden. Der Dissens bekommt auf diese Weise etwas Unerlaubtes, Anstößiges, Verletzendes. Versöhnen statt spalten, hieß ja auch einst das konsenssüchtige Motto von Bundespräsident Johannes Rau.

Es ist so einfach: Wer die Spaltungskeule schwingt, setzt sich selber ins Recht und den anderen ins Unrecht. Argumente sind dann nicht mehr nötig. Natürlich wird es trotzdem heißen, die sachliche Auseinandersetzung, der produktive Streit und zielorientierte Disput würden grundsätzlich begrüßt. Von wegen lebendige Demokratie und so. Aber eben nicht mit denen, die spalten. Wer die sind, steht in der Definitionsmacht derjenigen, die Widerspruch ersticken wollen.

Um die Frage, ob Christen mit Vertretern der AfD diskutieren sollen, tobte lange Zeit heftiger Streit. Beim Katholikentag vor einem Jahr in Leipzig wurde AfDlern das Podium verwehrt. Zur Begründung hieß es, die Partei habe sich aus dem demokratischen Grundkonsens verabschiedet. Das sei ein „starkes Zeichen, dass Hetzer dort keinen Platz haben“, meinte anerkennend die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt, die auch dem Präsidium des Kirchentages angehört. Markus Dröge, der evangelische Berliner Landesbischof, hält eine Mitgliedschaft in der AfD für unvereinbar mit der Wahl in ein Ältestenamt im Gemeindekirchenrat – wegen der „menschenverachtenden Parolen“, die die Partei vertrete.

Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Heinrich Bedford-Strohm, wirft zwar der AfD „rechtsradikale Stimmungsmache“ vor, verteidigt aber den Beschluss, auf dem Kirchentag in Berlin mit dem Gesprächstabu zu brechen. Dort soll nun mit Anette Schultner diskutiert werden, die die „Christen in der AfD“ vertritt. Die Begründung Bedford-Strohms klingt freilich ein wenig taktisch: „Wir wollen nicht Menschen, die sich von populistischen Aussagen angezogen fühlen, weiter in diese Richtung drängen, indem wir das Gespräch verweigern.“

Was hätte Jesus getan? Das ist die Kernfrage christlicher Ethik

Unumstritten ist die Veranstaltung dennoch nicht. Unter dem Motto „Da siehst Du mich nicht! Der Kirchentag braucht keine Alternative für Deutschland“ ruft die Initiative „Kein Publikum für die AfD“ zu einem Boykott der Podiumsdiskussion ein. Eine entsprechende Online-Petition haben bislang mehr als 1600 Personen und Organisationen unterzeichnet.

Was hätte Jesus getan? Das ist die Kernfrage christlicher Ethik. Im Lukas-Evangelium wird die Geschichte von Zachäus erzählt. Zachäus lebt in Jericho und ist dort ungefähr so beliebt wie ein AfD-Politiker auf einem Kirchentag. Denn Zachäus ist der oberste Zöllner der Stadt, er paktiert mit der römischen Besatzungsmacht, treibt Abgaben von der jüdischen Bevölkerung ein, verlangt gelegentlich auch zu viel und steckt die Beute in die eigene Tasche. Einer wie Zachäus gilt als Sünder und ist verhasst.

Nun kommt Jesus in die Stadt, und Zachäus klettert, weil er sehr klein ist, auf einen Maulbeerbaum, um den berühmten Mann besser sehen zu können. Als Jesus an die Stelle kommt, sieht er hinauf und ruft: „Zachäus, komm schnell herunter! Denn ich muss heute in deinem Haus zu Gast sein.“ Jesus weiß genau, wer Zachäus ist, er spricht ihn mit seinem Namen an. Das Publikum jedoch ist stinksauer: „Als sie das sahen, murrten sie alle und sprachen: Bei einem Sünder ist er eingekehrt.“ In der Folge bereut Zachäus seine Taten als Zöllner und verspricht Besserung. Aber das ist für den Akt der Selbsteinladung Jesu in dessen Haus irrelevant. Die geschieht bedingungslos.

Eine offene Diskussion, ohne Vorurteile und ohne Vorverurteilungen

Vor zwei Jahren, auf dem Kirchentag in Stuttgart, waren die Flüchtlinge das beherrschende Thema. Nach „Frieden schaffen“ und „Schöpfung bewahren“ heißt es seitdem mit Nachdruck „Liebe deinen Nächsten“. Die Politik der Bundesregierung hat sich seitdem mehrfach radikal gewandelt. Die einst offenen Grenzen sind längst zu, die Balkanroute verschlossen, ein Pakt zwischen EU und Türkei soll Schleppern das Handwerk legen, kriminelle Asylbewerber werden leichter abgeschoben, mehr Staaten wurden zu sicheren Herkunftsländern erklärt.

Das alles galt vor zwei Jahren als unchristlich. Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte „Wir schaffen das“, und Bundespräsident Joachim Gauck unterschied ein helles von einem dunklen Deutschland. Dann kam die Silvesternacht von Köln, und die Kriminalitätsstatistik registrierte einen überdurchschnittlich hohen Anstieg von Verbrechen, die durch Flüchtlinge begangen werden. Wo steht, vor dem Hintergrund dieser Entwicklung, der Kirchentag?

Darf ein Christ Angst haben vor dem Islam? Darf ein Christ für die Begrenzung von Zuwanderern sein? Darf ein Christ gegen den Euro und gegen eine noch engere Europäische Union sein? Vielleicht gehört es zu den großen Aufgaben des diesjährigen Kirchentages, solche Fragen offen zu diskutieren, ohne Vorurteile und ohne Vorverurteilungen. Jetzt, da humanitärer Anspruch und gesellschaftliche Wirklichkeit zuerst hart aufeinandergeprallt waren und sich dann zu etwas fragil Neuem formiert hatten, könnte die Zeit reif sein für echte Kontroversen und echten Streit. Dazu gehört auch, Rassismus, Diskriminierung und Menschenverachtung klar zu benennen und zu verurteilen.

Einer syrischen Flüchtlingsfamilie Kirchenasyl zu gewähren, ist das eine. Mit einem AfD-Vertreter, alias Zachäus, ernsthaft zu debattieren, dürfte für einige Gläubige eine größere Herausforderung sein. Jesus hätte wohl beides getan.

Zur Startseite