Religiöse Beschneidung: Chronik einer beispiellosen Debatte
Die herrschende Meinung und die, die sie machten: Wie ein Rechtsprofessor, eine Staatsanwältin und ein Richter die Debatte um Beschneidung steuerten, über die diese Woche auch der Deutsche Ethikrat debattiert.
Sechs Wochen vergehen, ohne dass etwas passiert. Das Kölner Landgericht fällt ein Berufungsurteil. Der Angeklagte wird darin freigesprochen, seine Tat aber sei strafbar, heißt es. Es geht um die rituelle Beschneidung von Jungen.
Das war Anfang Mai. Mitte Juni dann passiert etwas und seither führen Öffentlichkeit, Politik und Strafverfolger eine beispiellose Debatte über die Knabenbeschneidung. Juden und Muslime protestieren, Kliniken stoppten den Eingriff, Deutschlands Botschafter in Israel beruhigte die Knesset, der Bundestag fordert ein neues Gesetz, das den Eingriff erlaubt, in Bundesländern wird über Ausnahmeregelungen nachgedacht. Am Donnerstag tagt der Ethikrat.
Viel Aufregung für das Berufungsurteil eines Landgerichts, das sonst oft nur Zwischenstation in einem Strafverfahren ist. Aber nicht diesmal. Im Fall der Strafsache Beschneidung entstand der Eindruck, die religiöse Beschneidung sei ab sofort gerichtlich verboten. Und es ist kein Zufall, dass es so gekommen ist. Einige wollten es so. Einer von denen ist Holm Putzke.
Der Professor für Strafrecht in Passau steht im Zentrum der Debatten. Die rituelle Knabenbeschneidung ist Putzkes Lieblingsthema. Er wird als Fachmann in Talkshows geladen und vielfach zitiert. Auch der Tagesspiegel brachte ein Interview. „Es geht nicht darum, das Ritual zu verbieten“, sagte er da und plädiert für eine Verschiebung des Eingriffs in ein Alter, in dem Kinder dessen Tragweite ermessen könnten. Dann wäre der Schnitt keine Körperverletzung mehr. Über das Medienecho sagt Putzke: „Mir war bewusst, dass das ein sehr sensibles Thema ist. Dass das Kölner Urteil zu einer so grundlegenden Debatte führt, habe ich mir nicht vorgestellt.“
Aber vielleicht gewünscht?
Der gebürtige Sachse, Jahrgang 1973, hatte die Beschneidung 2008 in einem langen Festschriftenbeitrag zu Ehren seines akademischen Lehrers Rolf Dietrich Herzberg für sich entdeckt. Eltern könnten in die Beschneidung ihrer kleinen Söhne nur einwilligen, wenn diese medizinisch angezeigt ist, schreibt er. Religiöse Motive genügten dafür nicht. Der Anspruch der Kinder auf ihre Unversehrtheit überwiege. Die jüdische Brit Mila, die muslimische Beschneidung – ein Verstoß gegen das geltende Strafgesetz?
Putzke ließ mehrere Artikel folgen, referierte vor Kinderärzten und Urologen. Über Fachkreise kam die Diskussion kaum hinaus; in der Rechtswissenschaft hatte er eine exotische Diskussion angestoßen, an der sich fast niemand beteiligte. Für die Praxis der Strafgerichte spielte das Thema keine Rolle.
Video-Interview zum Thema Beschneidung:
Putzke hatte eine Leerstelle entdeckt und füllte sie mit seinen Thesen. So konnte seine Ansicht zu dem erstarken, was Juristen „herrschende Meinung“ nennen. Es ist die in der Rechtswissenschaft zu einer Streitfrage vorwiegend vertretene Position. Statistiken werden darüber nicht geführt. Die „herrschende Meinung“ lebt davon, in der wissenschaftlichen Literatur als solche bezeichnet zu werden. Und sie lebt vom Schweigen derer, die anderer Auffassung sind.
Für einen Rechtswissenschaftler ist es das höchste der fachlichen Gefühle, wenn sich seine Ansicht zu einer „herrschenden“ entwickelt oder Gerichte beeinflusst. Wenn sich das eigene Denken in Urteilen niederschlägt, am besten bei den Bundesgerichten. Wenn aus Meinung geltendes Recht wird, weil Gerichte bei ihrer Urteilsfindung auf wissenschaftliche Rechtsstudien zurückgreifen.
Als dem Juraprofessor Putzke Mitte Juni das Urteil des Kölner Landgerichts in die Hände fällt, weiß er, dass dieser Moment für ihn gekommen ist. Ein Gericht ist ihm gefolgt. Kein Bundes- und kein Oberlandesgericht zwar. Aber immerhin hat das Landgericht in Köln ein Urteil im Putzke-Sinn mit Putzke-Argumenten gefällt.
Die Oberstaatsanwältin erklärt den Fall zur Grundsatzfrage
Das Urteil setzt den Schlusspunkt unter ein ungewöhnliches Verfahren. Wenn es vor Gerichten überhaupt mal um Beschneidungen geht, dann um Kostenerstattung, Schadenersatz oder medizinisch unkorrekte Eingriffe. Im Prinzip ist für eine Strafverfolgung als Körperverletzung auch ein Strafantrag des Verletzten nötig. Sind die Kinder alt genug dafür, sind die Fälle verjährt.
Im Kölner Fall ist alles etwas anders. Eine verstörte Mutter, gebürtige Tunesierin, kommt mit ihrem Vierjährigen in die Klinik, ein Nachbar hatte den Rettungsdienst alarmiert. Der Junge war kurz zuvor von einem aus Syrien stammenden niedergelassenen Arzt beschnitten worden. Er hat Nachblutungen. Weil der Verdacht besteht, das Kind sei nicht fachgerecht operiert worden, und die Mutter, die kaum Deutsch spricht, den Vorgang nicht erklären kann, schalten die Ärzte die Polizei ein.
Es kommt zur Anklage, von der, so sagt die Kölner Staatsanwaltschaft, auch die örtliche Ärztekammer wusste. Vor Gericht stellt sich heraus, der Junge wurde korrekt und unter Betäubung beschnitten. Der Amtsrichter spricht den Arzt frei. Der Eingriff sei kein Verstoß gegen das Kindeswohl. Die Eltern hätten im Hinblick auf Religionsfreiheit und Erziehungsrecht wirksam eingewilligt.
Ein Urteil, das die zuständige Oberstaatsanwältin nicht hinnehmen will. Obwohl jeder Verdacht, der Junge sei nicht arztgerecht behandelt worden, ausgeräumt war, erklärt sie den Fall zur Grundsatzfrage, geht in die Berufung und liefert eine fünfseitige Begründung ab. Eine Seltenheit. Normalerweise begnügen sich Ankläger hier mit Textbausteinen.
Die fünf Seiten brauchte es, um der neuen Lehre das nötige Gewicht zu verschaffen. Die Kölner Ermittlerin zitiert im Wechsel Putzke und dessen Lehrer Herzberg, der seinem Schüler mittlerweile die Flanke stärkt. Dem Knaben seien Angst, Vertrauensverlust und Schmerzen zu ersparen. Er könne sich „mit Erreichen der erforderlichen Einsichtsfähigkeit selbst für oder gegen die religiös motivierte, medizinisch nicht indizierte Amputation seiner Vorhaut entscheiden“.
Die Beschneidungs-Debatte in Bildern:
Trotzdem gibt es da eine Hürde für die Anklägerin, den sogenannten Verbotsirrtum. Kein Täter wird bestraft, der nicht wissen konnte, dass sein Handeln strafbar ist. Doch die Beamtin überwindet dieses Hindernis. Sie behauptet, spätestens seit Putzke seine Ansicht im „Deutschen Ärzteblatt“ verbreitet habe, hätte es der Operateur besser wissen müssen: „Insofern kann der Angeklagte auch keinem unvermeidbaren Verbotsirrtum unterlegen haben.“ Das Fachblatt wird von der Bundesärztekammer herausgegeben und hat eine Auflage von etwa 400 000 Exemplaren.
Die Verhandlung findet, bis auf ein paar Zuschauer, unbemerkt von der Öffentlichkeit statt. Obwohl Verfahren von „grundsätzlicher Bedeutung“ nach oben zu melden sind, so bestimmen es die Justizrichtlinien in NRW, geschieht nichts dergleichen, auch die Pressestellen von Staatsanwaltschaft und Gericht verkündeten nichts. Im Saal ist allen klar, worum es geht. Um eine Entscheidung, die möglicherweise die jahrtausendealten Riten von Juden und Muslimen kriminalisiert. Nach Angaben von Beteiligten wird das Für und Wider ausgreifend erörtert.
Hätte eine verantwortungsvolle Staatsanwältin ihre Vorgesetzten nicht informieren müssen?
Sie tut es nicht. Als das Urteil am 7. Mai gesprochen wird und die Wochenfrist beginnt, in der Revision einzulegen wäre, geschieht abermals nichts. Die Kammer, bestehend aus zwei Schöffen und einem Berufsrichter, hat zwar auf Freispruch erkannt. Aber sie hat die Putzke-Argumentation übernommen: im Prinzip eine Straftat. Nur gesteht sie dem Angeklagten ein Verbotsirrtum zu, weil die Rechtmäßigkeit religiöser Beschneidung „in Rechtsprechung und Literatur unterschiedlich beantwortet“ würde.
Mit dem Freispruch ist ausgeschlossen, dass der Verteidiger Revision einlegt. Er darf es nicht. Nur die Anklage dürfte für einen Fortgang sorgen. Doch kann auch die Oberstaatsanwältin zufrieden sein. Die Putzke-Argumente haben sich durchgesetzt. Und so kann der Richter die schriftliche Begründung eines bereits rechtskräftigen Urteils abfassen, das erstmals die religiöse Beschneidung als solche kriminalisiert. Kein höheres Gericht würde ihn in näherer Zeit konterkarieren.
Ein Journalist aus dem fernen San Francisco berichtet als erster
Dabei erscheint der Gang in die nächste Instanz, die Revision zum Oberlandesgericht, fast zwingend. Für ein Urteil, das eine akzeptierte religiöse Tradition unter Strafe stellen will, ist der Spruch des Landgerichts von ignoranter Kürze.
Der Richter äußert sich nicht zu dem Verfahren, nach Tagesspiegel-Informationen aber war er es, der das Urteil umgehend an die Fachzeitschrift „Medizinrecht“ weiterreichte. Nicht unüblich, doch wie er wusste, ist es das Hausblatt der Putzke-Fraktion. Dessen Mentor Herzberg hatte noch in der März-Ausgabe erneut zur Beschneidung geschrieben. Im selben Heft machte Putzke einen Doktoranden nieder, der den Schnitt verteidigte.
Natürlich landet das Urteil dann schnell bei Putzke. Die Zeitschrift „Medizinrecht“ bittet um Besprechung. Putzke würde liefern. Aber er ahnt, für eine neuerliche Diskussion ausschließlich in Fachkreisen wäre das Urteil verschenkt. Er will mehr als die herrschende Juristenmeinung.
Putzke sagte dem Tagesspiegel: „Wie die Presse von dem Urteil erfahren hat, dazu weiß ich leider nichts Näheres.“ Eine Lüge, wie sich herausstellen sollte. Der Professor selbst hatte es in die Hand genommen, für die mediale Verbreitung des Urteils zu sorgen und sich an die „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und die „Financial Times Deutschland“ gewandt. Von der „FAZ“ wusste er, sie teilt seine kritische Sicht. Bei der „FTD“ arbeitet ein persönlicher Freund Putzkes, derzeit als US-Korrespondent. Beide kennen sich aus dem Studium, Putzke dankte ihm im Vorwort seiner Doktorarbeit. Die „FTD“ soll nun den Auftakt machen, die „FAZ“ würde nachlegen.
So kommt es, dass am 26. Juni ein Journalist aus dem fernen San Francisco auf der Titelseite des Blatts die Deutschen erstmals über ein angeblich wegweisendes Urteil informiert, das hierzulande kein Mensch kennt. Mit einem Tenor, wie Putzke ihn will: „Wer Jungen aus religiösen Gründen beschneidet, macht sich wegen Körperverletzung strafbar.“ Kein Angeklagter könne sich mehr auf einen Verbotsirrtum berufen.
Der einzige Experte, der zu Wort kommt, ist Holm Putzke. „Das Urteil ist für Ärzte enorm wichtig, weil diese jetzt zum ersten Mal Rechtssicherheit haben.“ Das Gericht habe sich nicht von der Sorge abschrecken lassen, als antisemitisch und religionsfeindlich kritisiert zu werden. „Anders als viele Politiker.“
Rechtssicherheit kann es durch Urteile von Untergerichten nicht geben. Verschwiegen wird, dass es um eine Berufung ging, bei der die Kammer mit nur einem einzigen juristisch gebildeten Richter besetzt ist. Kein Wort, dass der Richterspruch schon sechs Wochen alt ist, dass ein Amtsgericht zuvor das Gegenteil entschieden hatte. Nichts davon, dass weder andere Gerichte noch Staatsanwälte an das Urteil gebunden sind. Nichts, was auf die persönliche Nähe zwischen Putzke und dem Verfasser des Artikels hindeutet. Der FTD-Journalist sagt, er habe sich für die Anfrage bei Putzke aus fachlichen Gründen entschieden. Putzke gibt mittlerweile zu, von sich aus an die Presse herangetreten zu sein.
Am Status eines Landgerichtsurteils gemessen ist der Tenor der Nachricht schrill. Eine Welle bricht über das Kölner Gericht herein, Proteste islamischer und jüdischer Verbände, Anfragen von Journalisten. Als Reaktion wird eine Pressemitteilung herausgegeben. Erst einen Tag später wird das Urteil im vollen Wortlaut in der Justizdatenbank veröffentlicht.
Da ist es zu spät. Der Ton war gesetzt. Der Zentralrat der Juden wies den Richterspruch schon als „beispiellosen und dramatischen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften“ zurück. Der internationale Eindruck, dass Deutschland die Beschneidung verbiete, war nicht mehr zu zerstreuen. Zu Unrecht war geworden, was eben noch als Recht galt.
Dabei war es nur eine Meinung. Aber die herrschte jetzt.
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