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Ukrainische Demonstranten bedrohen die Nationalgarde, die das Parlament zu schützen versucht.
© dpa

Ukraine: Chaos in Kiew

Eine umstrittene Verfassungsreform löst massive Ausschreitungen in der ukrainischen Hauptstadt aus. Mehr als 100 Menschen werden nach Explosionen verletzt, ein Angehöriger der Nationalgarde kommt ums Leben.

Solche Bilder hatte man in Kiew schon fast wieder vergessen. Was sich am Montagmittag vor dem Parlament abspielte, glich den blutigen und gewalttätigen Auseinandersetzungen im Winter 2014, als in der Kiewer Innenstadt Tausende Menschen für eine pro-europäische Regierung demonstriert hatten.

Nachdem das Parlament für das umstrittene Dezentralisierungsgesetz gestimmt hatte, explodierten vor dem Gebäude sechs, vielleicht sieben Sprengkörper. Die Wucht der Detonation war so stark, dass durch die Druckwelle ein Wachmann zu Boden ging. Gehwegplatten vor der Rada zersplitterten und trafen Demonstranten, Soldaten und Medienvertreter. Kiews Bürgermeister Witali Klitschko gab am Montagnachmittag bekannt, dass ein Mensch zu Tode kam. Ein Soldaten der Spezialeinheit, die das Parlament bewacht. „Diese sinnlose Gewalt wird Konsequenzen haben, den oder die Täter und die Organisation, die für diesen Terrorakt verantwortlich ist, werden wir festnehmen“, sagte Klitschko vor Medienvertretern in Kiew.

Die Szene vor dem Parlament glich einem Schlachtfeld. Pfützen voller Blut und verwundete Menschen, die nach Hilfe schrien oder schockstarr dalagen. Ein Mann in Zivil hielt sich seinen herunterhängenden Arm. Innerhalb weniger Minuten kamen 20 Rettungswagen zum Parlament und versorgten die Verletzten.

Auch im Parlament war die Stimmung feindselig

Auch in der Werchowna Rada, dem Parlament, war die Stimmung aggressiv, die Regierungsparteien begegneten einander feindselig. Vor allem die Fraktion der Radikalen Partei um ihren Anführer Oleg Ljaschko war aufgebracht. Jeder Redner, der sich für das Gesetz zur Dezentralisierung aussprach, wurde nicht nur niedergebuht; die Abgeordneten der Radikalen Partei schlugen mit Plastikflaschen auf die hölzernen Stuhllehnen. Einer hatte ein Megafon mit den Sitzungssaal geschmuggelt. Parlamentssprecher Wladimir Groismann von der Präsidentenpartei „Block Poroschenko“ und seinem Stellvertreter Andrej Parubij von der „Narodni Front“ gelang es nicht, zu ihren Sitzen zu kommen. Trotz der Blockade eröffnete Groismann die Sitzung und wurde als „Staatsverräter“ beschimpft. Als „Totengräber der Ukraine“.

Das Dezentralisierungs-Gesetz von Präsident Poroschenko erhielt trotz aller Kritik die nötige Mehrheit und wurde mit 265 von 368 Stimmen in der ersten Lesung angenommen. Im Dezember soll abschließend über das Vorhaben abgestimmt werden. Fraglich ist dann, von welcher Regierung. Drei der fünf Regierungsparteien stimmten dagegen, nur mit den Stimmen des Oppositionellen Blocks und dreier weiterer Oppositionsbündnisse erreichte der Poroschenko-Vorschlag eine Mehrheit.

Als Sergej Lewotschkin, Fraktionschef des Oppositionellen Blocks, an das Rednerpult trat, um zu begründen, warum die Nachfolgepartei des Ex-Präsidenten Viktor Jaunukowitsch für die Dezentralisierung stimmen werde, fühlten sich nicht wenige an den 16. Januar 2014 zurückversetzt. Damals hatte die Janukowitsch-Fraktion eine Reihe von Gesetzen verabschiedet, die die Meinungs- und Versammlungsfreiheit erheblich einschränken sollte.

Die frühere Ministerpräsidentin Julia Timoschenko äußerte sich sehr kritisch zu dem Dezentralisierungsgesetz und sagte: „In Kriegszeiten sollte die Verfassung nicht verändert werden. Das jetzt vorliegende Gesetz bringt unserem Land keinen Frieden, sondern vertieft noch die Spaltung.“ Timoschenkos Vaterlandspartei stimmte deswegen geschlossen gegen das Gesetz.

Obwohl das Dezentralisierungsgesetz zu einem der wichtigsten Vorhaben der Regierung Poroschenko-Jazenjuk gehört, waren am Montag weder der Präsident noch der Regierungschef in das Parlament gekommen. Das Gesetz soll den Regionen mehr Autonomie zugestehen und vor allem den besetzten Gebieten Lugansk und Donezk mit weitreichenden Sonderrechten wie einer eigenen Polizei, Steuergesetzgebung und Sonderkonditionen mit Russland gewähren. Vor allem Parteien wie die „Samopomitsch“, die einen Großteil ihrer Wähler im Westen der Ukraine hat, lehnen diese Sonderregelung ab. Die Vaterlandspartei warnt vor einem Zerfall der Ukraine und spricht von einem „jugoslawischen Szenario“, das dem krisengeschüttelten Land bevorstehe.

Präsident Poroschenko gerät momentan mehr und mehr unter Druck. Die Forderung nach mehr Dezentralisierung ist ein Punkt der Vereinbarungen von Minsk. Vor allem Russland hatte bei den Verhandlungen Mitte Februar 2015 in der weißrussischen Hauptstadt darauf bestanden, dass die besetzten Teile des Donbass mehr Selbstständigkeit erhalten.

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