Großbritannien und die EU: Camerons Forderungen helfen Europa
Warum Deutschland die britischen Reformpläne unterstützen sollte. Ein Gastbeitrag vom CEO von Vodafone.
Vielleicht schon im Sommer werden wir wissen, ob die Europäische Union ihr zweitgrößtes Mitgliedsland behält. Dann werden die Briten über eine Frage abstimmen, bei der es für die einen um staatliche Souveränität, für die anderen um wirtschaftliche Vorteile geht. Außerhalb des Vereinigten Königreichs konzentrieren sich die Diskussionen darauf, ob die vorgeschlagenen Änderungen an der EU – wie im Schreiben des britischen Premierministers an den Präsidenten des Europäischen Rats skizziert – ein „Preis“ sind, der für den Verbleib Großbritanniens in der EU akzeptabel ist. David Camerons Vorschläge werden von weiten Teilen Kontinentaleuropas als „Gewinn“ für sein Land und daher als „Verlust“ für alle anderen Mitgliedsstaaten gesehen.
Die Produktivität in der EU muss gesteigert werden
Ich bin der Meinung, dass diese Sichtweise nicht richtig ist. Cameron ruft zu einer Reform in vier wichtigen Bereichen auf: Wirtschaftspolitik, Wettbewerbsfähigkeit, Staatssouveränität und Zuwanderung. Das Thema der Einwanderung hat eine hitzige Debatte entfacht. Vorschläge, nach denen EU-Bürgern in den ersten vier Jahren ihres Aufenthalts in Großbritannien keine Sozialleistungen gewährt werden, wurden als Rückschritt gesehen, der eines der wichtigsten Gründungsprinzipien der EU verletzt. Hier muss die Politik die richtigen Antworten finden. Unbestreitbar ist aber, dass die Entscheidungen auf Basis einer sachlichen Analyse getroffen werden müssen. Diese Vorgehensweise ist zielführender, als ein solches Thema dem Wahlkampf zu überlassen und gefährlicher Demagogie Vorschub zu leisten.
Cameron hat absolut recht damit, dass die von ihm geforderten Reformen der ganzen EU guttun würden. Seit vielen Jahren betonen die Wirtschaftsführer in Europa, dass ohne weitreichende Reformen der zukünftige Wohlstand der EU gefährdet ist. Die Produktivität in der EU muss gesteigert werden, Entscheidungswege vereinfacht, überflüssige behördliche Auflagen abgebaut und der freie Kapital- und Warenfluss in einem EU-Binnenmarkt, der diesen Namen verdient, sichergestellt werden. Genau darum drehen sich die britischen Vorschläge. Europäische Firmen plädieren seit Jahren für Reformen dieser Art, allerdings mit beschränktem Erfolg – während die Konkurrenz in Asien und den USA rasant wächst.
Das Letzte, was europäische Unternehmen jetzt brauchen, ist noch mehr Zersplitterung
Ich bin gebürtiger Italiener und lebe seit 2006 in London. Vodafone wurde in Großbritannien gegründet und gilt noch immer als britisches Unternehmen, obwohl es mittlerweile rund 90 Prozent seiner Erträge im Ausland erwirtschaftet. Großbritannien ist wichtig für Vodafone, aber wir betrachten die Welt aus einer breiteren Perspektive. Innerhalb der EU haben wir es mit 200 verschiedenen Aufsichtsbehörden zu tun. Die Auffassungen, wie europäisches Recht interpretiert werden soll, gehen bei vielen weit auseinander (oder werden einfach ignoriert). Die Regelungen zu Mobilfunkfrequenzen, Zugang zu Glasfasernetzen und das Recht, digitale Inhalte zu vertreiben – um nur einige Beispiele zu nennen –, sind in keinen zwei Mitgliedsstaaten identisch. Überall sehen wir uns mit Komplexität und Kosten konfrontiert.
Das Letzte, was europäische Unternehmen jetzt brauchen, ist noch mehr Zersplitterung und Uneinheitlichkeit bei den in verschiedenen Ländern angewandten Regelungen. Ebenso schwer vorstellbar ist, wie die Vision eines digitalen EU-Binnenmarktes verwirklicht werden kann, falls das Vereinigte Königreich – einer der wesentlichen Architekten der Online-Revolution und einer der größten digitalen Märkte – auf den Status eines passiven Mitspielers herabgestuft würde und sich an Regeln halten müsste, die andere aufstellen. Großbritannien steht Handel und Wettbewerb seit jeher offen gegenüber und betreibt eine zukunftsorientierte Politik für mehr Wachstum. Mit seinen Chancen auf Arbeit und Innovationen übt das Land eine starke Anziehungskraft auf junge Menschen aus.
Ich glaube, dass die Europäer die falschen Fragen stellen. Es geht nicht darum, welchen Preis Europa zu zahlen gewillt ist, damit das Vereinigte Königreich in der EU bleibt. Sondern es geht um die Kosten, die Europa tragen muss, wenn es die Notwendigkeit für Reformen weiter ignoriert.
Der Autor ist seit 2008 der CEO von Vodafone.
Vittorio Colao