Asyl in Europa: Bundesregierung lehnt humanitäre Visa für Flüchtlinge ab
Stellungnahme für Europäischen Gerichtshof: Wer Schutz beantragt, will länger bleiben - deshalb kann es keinen Anspruch auf Kurzzeit-Visa geben.
Die Bundesregierung hat Forderungen der EU-Justiz widersprochen, wonach Asylsuchenden in Notlagen humanitäre Visa auszustellen sind, um ihnen die sichere Einreise in EU-Staaten zu ermöglichen. In einer Stellungnahme für den Europäischen Gerichtshof (EuGH), die dem Tagesspiegel vorliegt, erklärt die Regierung, nach dem EU-Visakodex bestehe keine entsprechende Verpflichtung für die Mitgliedstaaten. Die Vorschrift des Artikel 25 gelte nur für Ausnahmefälle und für Kurzzeit-Visa. „Beabsichtigt der Antragsteller einzureisen, um internationalen Schutz zu beantragen, ist sein Antrag auf einen längerfristigen Aufenthalt gerichtet.“ Daher scheide ein Notfall-Visum aus.
EU-Generalanwalt Paolo Mengozzi hatte Anfang Februar in einem belgischen Rechtsstreit die Auffassung vertreten, dass EU-Staaten nachweislich verfolgten Asylsuchenden sogenannte humanitäre Visa ausstellen müssten. Seinem Schlussantrag zufolge zwinge die EU-Grundrechtecharta zu diesem Schritt. Demnach könnten Schutzsuchende bei Auslandsvertretungen von EU-Staaten Visa beantragen. Die meisten Flüchtlinge gelangen bisher nur mit Hilfe krimineller Schleuserbanden und auf riskanten Fluchtrouten nach Europa, um dann hier Asyl zu beantragen. Die EU-Staaten wollen diese Migrationswege soweit wie möglich versperren.
Häufig folgt der EuGH in seinem Urteil dem Votum der Generalanwälte. Die Flüchtlingshilfsorganisation Pro Asyl hatte die Aussagen Mengozzis als „Sternstunde der Menschenrechte“ bezeichnet.
Der Gerichtshof will kommenden Dienstag entscheiden
Der EU-Generalanwalt hat die bisherige Flüchtlingspolitik mit seinem Antrag grundsätzlich in Frage gestellt. Er verwies auf die EU-Grundrechtecharta, in der das Recht auf Asyl und das Verbot von „Folter oder unmenschlicher und erniedrigender Strafe oder Behandlung“ festgeschrieben ist. Diese Rechte hätten die Behörden ohne räumliche Einschränkungen zu wahren. Drohe Gefahr für Leib oder Leben, müssten EU-Staaten die Einreise erlauben, auch wenn es zwischen der betreffenden Person und dem Zielland keine Verbindung gebe.
Im vorliegenden Fall hatte eine syrische Familie in der belgischen Botschaft im Libanon im Oktober vergangenen Jahres vergeblich Visa beantragt. Der Vater gab an, er sei in Syrien entführt und gefoltert worden, bis er gegen Lösegeld frei kam. Die Familie aus Aleppo befürchtete zudem wegen ihres christlich-orthodoxen Glaubens verfolgt zu werden. Die belgischen Behörden lehnten Visa mit der Begründung ab, die EU-Mitgliedstaaten seien nicht verpflichtet, alle Menschen aufzunehmen, „die eine katastrophale Situation erlebten“.
Die Bundesregierung hat ihre Stellungnahme Ende Januar vor dem Luxemburger Gericht mündlich vorgetragen. Auch aus den EU-Grundrechten „ergibt sich nicht die positive Verpflichtung der Mitgliedstaaten, an Botschaften und Konsulaten Kurzzeit-Visa zu dem Zweck zu erteilen, in der EU einen Asylantrag zu stellen“, heißt es. „Völkerrechtlich besteht kein Recht zur Einreise“. Der EuGH führt in der Sache ein Eilverfahren und hat sein Urteil bereits für kommenden Dienstag angekündigt.
Jost Müller-Neuhof