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Transparenz in der Europäischen Union: „Brüssel“ ist schuld oder: Gesetzgebung in der Blackbox

Die Geheimhaltungspraxis in den EU-Räten nährt das Misstrauen in den Mitgliedsstaaten. Doch die EU-Bürgerbeauftrage O’Reilly kämpft dagegen an. Ein Kommentar.

Doch, es arbeiten auch sehr gute Leute für die Europäische Union. Eine davon ist Emily O’Reilly, die EU-Bürgerbeauftragte. Mit Fleiß und Hartnäckigkeit kämpft die streitbare Irin seit Jahren für Transparenz und Ehrlichkeit in den europäischen Institutionen. Gleich, ob es um die Unterwanderung der EU-Kommission durch Konzernlobbyisten geht, die Ausbeutung der Praktikanten im auswärtigen Dienst oder die fragwürdige Mitgliedschaft von EZB-Chef Mario Draghi in einem Lobby-Club der Hochfinanz: O’Reilly nennt die Missstände beim Namen und streitet für das Europa der Bürger.

Jetzt hat sie sich auch das dickste Brett vorgenommen, das der europäischen Demokratie im Wege steht: den „Rat“, also jene Institution, in der die nationalen Regierungen der Mitgliedsländer über die Gesetzgebung der Union entscheiden. Die Arbeitsweise dieses zentralen Gesetzgebungsorgans der EU „untergräbt das Recht der Bürger, ihre Regierungen zur Rechenschaft zu ziehen“, konstatierte Europas Ombudsfrau. Das finde seinen Ausdruck in der „unverhältnismäßigen Geheimhaltung“ der Vorgänge in den Ministerräten und ihren rund 150 Arbeitsgruppen, in denen die Abgesandten der nationalen Ministerien Gesetze aushandeln.

Das mache es „für die Bürger praktisch unmöglich, der Diskussion der nationalen Vertreter über die Gesetzgebung zu folgen“, sagte O’Reilly. Ganz ähnlich hatten kürzlich auch niederländische Parlamentarier den Rat als „Blackbox“ kritisiert. Insbesondere durch dessen „informelle“ Gremien wie die EuroGruppe würden die Parlamente „übergangen“ und immer wieder „mit vollendeten Tatsachen konfrontiert“.

Damit ist amtlich, was Berichterstatter seit je beklagen. Europas mächtigstes gesetzgebendes Organ verstößt gegen ein zentrales Prinzip der Demokratie: die Pflicht zur offenen, transparenten Gesetzgebung. Dahinter steht der Unwille der nationalen Regierungsbeamten, ihre jeweiligen Manöver und Positionen in den Ratsgremien offenzulegen. Das hat für die Regierenden den bequemen Vorteil, dass sie bei umstrittenen Vorhaben verbreiten können, „Brüssel“ sei schuld, auch wenn ihre eigenen Beamten daran mitgewirkt haben. Dieses „Phänomen“ nähre „Zweifel an der demokratischen Legitimität der Union“ und fördere „antieuropäische Ressentiments“, warnte O’Reilly. Noch vor der nächsten Wahl solle der Rat darum all seine Verhandlungsdokumente öffentlich zugänglich machen, um die Argumente der Rechtspopulisten zu entkräften und „die Entfremdung der Bürger zu mindern“.

Abgeordnete weigern sich, für die Interessen aller EU-Bürger einzutreten

So richtig das ist, so ärgerlich ist aber auch, dass O’Reillys Initiative überhaupt notwendig ist. Denn eigentlich ist es die genuine Aufgabe des Europäischen Parlaments, das durchzusetzen. Würden alle EU-Parlamentarier ihren Job als gewählte Vertreter der Bürger ernst nehmen, dann hätten sie längst das Ende der Geheimhaltungspraxis im Rat erzwungen. Die formale Macht dazu haben sie allemal, schließlich könnten sie das Budget blockieren. Doch die konservativ-liberale Mehrheit der EU-Abgeordneten verweigert sich der Pflicht, für das europäische Gemeinwohl und die Interessen aller EU-Bürger einzustehen. Stattdessen agieren die meisten Abgeordneten nur als Vertreter ihrer nationalen Parteien und agieren damit mehrheitlich als verlängerter Arm ihrer jeweiligen Regierungen. Das offenbarten sie in der vergangenen Woche einmal mehr, als sie sich gegen die Aufstellung EU-weiter Kandidatenlisten für die nächste Wahl stellten.

Nicht zuletzt alle deutschen CDU-Abgeordneten votierten lieber geschlossen dafür, auch künftig das EU-Parlament allein mit national gewählten Vertretern zu besetzen. So steht zu befürchten, dass der Vorstoß von Europas bester Bürgervertreterin im Sande verläuft, weil die Parlamentsmehrheit den nötigen Machtkampf mit den Regierungstechnokraten im Rat gar nicht erst antritt. Dann aber sollten die Verantwortlichen nicht klagen, wenn ihnen immer mehr Misstrauen entgegenschlägt.

Der große Philosoph Immanuel Kant schrieb schon vor zwei Jahrhunderten: „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogenen Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht. Denn eine Maxime, zu der ich mich nicht öffentlich bekennen kann, ohne dass dadurch der Widerstand aller gegen meinen Vorsatz gereizt werde, kann diese Gegenbearbeitung aller gegen mich nirgendwo anders als von der Ungerechtigkeit haben, womit sie jedermann bedroht.“

Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Harald Schumann

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