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Politik: Britischer Teilrückzug

London tritt aus mehr als 130 Vereinbarungen der EU im Bereich Innenpolitik und Justiz aus.

Großbritannien wird aus mehr als 130 Vereinbarungen und gemeinsamen europäischen Projekten im Bereich Recht und Innenpolitik austreten. Die Möglichkeit dieses „Opt-outs“ war in einem Protokoll zum EU-Vertrag von Nizza von 2009 ausgehandelt worden. Allerdings will Großbritannien außerdem die Möglichkeit nutzen, in einen Teil der relevanten EU-Institutionen wieder einzutreten, „wo dies im nationalen Interesse ist“, sagte Innenministerin Theresa May am Dienstag im Unterhaus.

Weiterarbeiten will Großbritannien unter anderem bei der gemeinsamen Ermittlungsbehörde Europol und der Zusammenarbeit der Rechtsbehörden unter „Eurojust“. Auch dem im Lande umstrittenen europäischen Haftbefehl wollen sich die Briten wieder anschließen, allerdings erst dann, wenn seine Umsetzung reformiert wird. Der rechte Flügel der Tories kritisiert den Haftbefehl scharf. Mays Ankündigung wurde mit Zwischenrufen wie „Schande“ quittiert. Das Unterhaus wird in der nächsten Woche über Mays Pläne abstimmen. Ein klares Mandat soll die Regierung bei den Verhandlungen mit anderen EU-Partnern und der EU-Kommission stärken.

Im britischen Außenministerium betonte man, es handle sich um eine „prozedurale Entscheidung“. Euroskeptiker dagegen sehen in der Wahrnehmung des Opt-outs eine wichtige Bekräftigung der britischen Souveränität und ein Beispiel für die Rückgewinnung von Kompetenzen von Brüssel, zumal Großbritannien mit einem Verzicht auf das Opt-out die gesamte „Säule“ Rechts- und Innenpolitik unwiderruflich unter die Jurisdiktion des Europäischen Gerichtshofes gestellt und die Einführung einer europäischen Anklagebehörde beschleunigt hätte. Sie sehen in der Entscheidung auch einen Präzedenzfall dafür, dass Machtbefugnisse von Brüssel an Einzelstaaten zurückgegeben werden können. Andrea Leadsom, die Wortführerin des Tory-Flügels, der zwar EU-kritisch ist, aber keinen Austritt will, sagte gestern, Kooperation in Europa sei wichtig und vorteilhaft, „aber das Prinzip der immer engeren Union ist falsch“.

Mays Stellungnahme waren langwierigen Verhandlungen zwischen den Koalitionsparteien vorausgegangen, die in der Europapolitik einen unterschiedlichen Kurs fahren. Besonders die Haltung zum Europäischen Haftbefehl stellt einen Kompromiss dar, der im Unterhaus gebilligt werden muss. May will garantieren, dass der Haftbefehl nicht wegen kleinerer Vergehen eingesetzt wird und dass triftige Anklagegründe vorliegen. Der Brite Andrew Symeou war auf Grund des Haftbefehls mehrere Jahre lang in griechischen Gefängnissen; im Prozess wurde schließlich seine Unschuld festgestellt. Auch die Auslieferung des Wikileaks-Gründers Julian Assange nach Schweden wäre nach Mays Plänen kaum möglich.

May hatte am Montag im Triumph die Abschiebung des Hasspredigers Abu Qatada nach Jordanien bekannt gegeben, der sich ihr durch die europäische Menschenrechtsgesetzgebung acht Jahre lang widersetzen konnte. Sie verband ihre Stellungnahme mit einer scharfen Attacke gegen die „widersinnige Interpretation unserer Menschenrechtsgesetze“ durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Am Dienstag verurteilte das Straßburger Gericht von britischen Gerichten verhängte lebenslange Haftstrafen ohne Begnadigungsmöglichkeit gegen Mehrfachmörder als rechtswidrig und provozierte damit einen neuen Konflikt.

Mit dem Opt-out aus der dritten Säule der EU-Politik und der Andeutung eines Austritts aus der europäischen Menschenrechtskonvention stellen die Tories Weichen für den kommenden Wahlkampf, in dem Großbritanniens Souveränität eine zentrale Rolle spielen wird. Vergangene Woche hatten die Konservativen in zweiter Lesung ein Gesetz verabschiedet, das ein EU-Austrittsreferendum vor 2017 vorschreibt. Die Tories unter Premier David Cameron ziehen in dieser Frage an einem Strang wie lange nicht.

Matthias Thibaut

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