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Auschwitz-Überlebende Anita Lasker-Wallfisch und ihr Enkel Simon Wallfisch. Der Antrag auf einen deutschen Pass fiel im nicht leicht.
© imago/STAR-MEDIA

Brexit: Britische Juden werden Deutsche

Mit dem Brexit steigen die Anträge auf doppelte Staatsbürgerschaft. Vielen fällt die Entscheidung darüber schwer.

Seit dem Brexit-Referendum fürchten viele Briten um ihre persönliche Freizügigkeit. So auch der Bariton und Cellist Simon Wallfisch. Ein halbes Jahr nach der Entscheidung zum EU-Austritt hat er die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt und – auch dank seiner jüdischen Wurzeln – inzwischen erhalten. Kein leichter Schritt für den Enkel der Auschwitz-Überlebenden Anita Lasker-Wallfisch (93), die am Holocaust-Gedenktag 2018 im Deutschen Bundestag über das unermessliche Leid von Millionen Juden sprach. Und nun soll ihr Enkel Teil des „Tätervolks“ werden?

„Ich bin als Europäer geboren, und ich möchte das bleiben“, sagte der 36-Jährige kürzlich im ARD-Interview. Es sei ein „Glück“, sich in Europa frei bewegen, arbeiten und studieren zu können, so Wallfisch, der beim Studium in Berlin und Leipzig Deutsch gelernt hat. „Und dann plötzlich kommt irgendeine willkürliche Wahl, und dann wird das weggenommen. Das können wir nicht akzeptieren.“

Deutscher Pass am häufigsten vergeben

Dass viele Briten offenbar ähnlich denken, zeigen die Zahlen. Der deutsche Pass wurde laut BBC-Recherchen 2017 am häufigsten vergeben: 7493 mal – gegenüber nur 546 mal 2015. Dass für viele Juden in Großbritannien der Schritt zur doppelten Staatsbürgerschaft relativ leicht ist, liegt an Grundgesetzartikel 116: Dieser begünstigt Menschen, denen in der Nazizeit die deutsche Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden war, sowie deren Nachfahren.

2015 beriefen sich im Rahmen der sogenannten Wiedergutmachung 43 Briten auf diesen Passus. 2016 stieg die Zahl der Wiedereinbürgerungen aus Großbritannien schon auf 684; fast alle Anträge gingen nach dem Brexit-Referendum vom 23. Juni ein. 2017 erhielten 1667 Briten dank der Wiedergutmachung einen deutschen Pass; der Großteil von ihnen Juden – wie Simon Wallfisch. Dass das Prozedere fast zwei Jahre dauerte, liegt an der wachsenden Nachfrage.

„Merklich gestiegen“ sei das Interesse von Briten, ihre Familiengeschichte zu recherchieren – „um die Möglichkeit einer deutschen Staatsbürgerschaft zu erkunden“, wie auch Christine Schmidt bestätigt, Vizedirektorin und Leiterin für Forschung der „Wiener Library“ in London. Anfragen erhalte die Einrichtung zur Holocaustforschung von „Kindern, Enkeln und im Ausnahmefall von einem Überlebenden selbst“, so Schmidt. Deshalb gebe es im Februar einen Workshop „Deutsche Staatsbürgerschaft für britische Juden“.

Freiheit für Arbeit und Reisen

Dort will auch Michael Newman Auskunft geben, Leiter der Association of Jewish Refugees. Newman kennt „viele Juden, die gerade auf ihren deutschen Pass warten oder ihn kürzlich erhalten haben“. Die meisten wollten mit der doppelten Staatsbürgerschaft schlicht sichergehen, dass sie „weiter die Freiheiten für Arbeit und Reisen genießen können, die sie schon ihr ganzes Leben kennen“.

Viele Juden stellten den Antrag nur schweren Herzens, sagt Newman. Denn der Wunsch nach Bewegungsfreiheit in der EU stößt in der jüdischen Bevölkerung Britanniens auf die Schatten der deutschen Vergangenheit. „Was würden meine Eltern oder Großeltern wohl sagen?“, fragten sich jüngere Antragsteller, berichtet auch Christine Schmidt.

Robert Voss hat sich gegen einen deutschen Pass entschieden. Sein Vater musste die Eltern in Deutschland zurücklassen. „Er hat versucht, seine Wurzeln zu vergessen und die ersten 19 Jahre seines Lebens aus dem Gedächtnis zu löschen“, sagt Voss. 91 seiner Verwandten starben im KZ, so hat er recherchiert. Für Voss, heute Lord Lieutenant von Hertfordshire in der Grafschaft, wäre ein deutscher Pass „eine Missachtung des Gedenkens an meinen Vater“.

Anita Lasker-Wallfisch zeigt eine pragmatische Sichtweise. Simon sei zwar in England geboren; „aber sein Background ist nicht englisch“, sagte sie der ARD. „Er ist Sänger und hat die deutsche Sprache gelernt. Er ist einfach Europäer.“ (KNA)

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