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Prof. Wolfgang Merkel, Direktor der Abteilung „Demokratie: Strukturen, Leistungsprofil und Herausforderungen“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).
© Thilo Rückeis

SPD und Union: Brauchen wir noch Volksparteien?

Union und SPD befinden sich bei der Wählergunst im freien Fall. Kleine und extreme Parteien profitieren. Ein Gastbeitrag.

Die Volksparteien stecken in der Krise. Auf dem Wählermarkt haben sie an Attraktivität verloren. Dies hat sich schon seit zwei Dekaden angedeutet. Die ersten Opfer waren die Sozialdemokraten. Nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa – in Ost wie in West.

Mittlerweile hat es auch die Mitte-rechts-Volksparteien erfasst, Konservative, Moderate oder eben die Christdemokraten. Der Trend hat sich so verdichtet, dass politikwissenschaftliche Analysen, die dies schon vor Jahren diagnostiziert haben, nun auch in den Parteizentralen der einst großen Volksparteien angekommen sind.

Sieht man von Großbritannien einmal ab, wo ein wenig repräsentatives Mehrheitswahlsystem die Volksparteien institutionell unter Artenschutz stellt, gibt es nur noch eine wirkliche Volkspartei in Europa: Viktor Orbáns Fidesz – fatalerweise, möchte man hinzufügen.

Wenn die empirische Beschreibung stimmt, und das tut sie, stellen sich zumindest zwei Fragen. Die erste ist: Warum befinden sich die Volksparteien im Niedergang? Und zweitens: Was bedeutet das für unsere Demokratie?

Gegenwärtig breitet sich ein babylonisches Sprachengewirr aus, was Volksparteien eigentlich sind. Wir hören abenteuerlich subjektive Beschreibungen von betroffenen Politikern: „Für mich sind Volksparteien…“ oder „Warum ich als junger Mensch in eine Volkspartei eingetreten bin…“.

Jenseits dieser Betroffenheitsrhetorik sind folgende Elemente als definitorischer Kernbestand von Volksparteien festzuhalten: Volksparteien müssen möglichst viele Schichten der Gesellschaft repräsentieren und bei Wahlen anziehen; sie müssen ein Programmangebot liefern, das nicht zu fokussiert sein darf, sondern so breit aufgespannt ist, dass es jenseits der oberen fünf Prozent der Gesellschaft für alle Wähler attraktiv sein kann; Volksparteien sollten die Werte möglichst vieler sozialmoralischer Milieus widerspiegeln; Volksparteien sollten über eine starke Mitgliederbasis in der Gesellschaft verwurzelt sein und müssen last but not least eine gewisse Größe haben, sonst können sie die genannten Funktionen gar nicht erfüllen. Es hilft dabei, wenn sie einen sozialstrukturellen wie normativen Schwerpunkt in der Gesellschaft haben, wie ihn die Sozialdemokraten im Arbeiter- und die Christdemokraten im katholischen Milieu besaßen.

Die Gründe für den Niedergang

Auch wenn hinsichtlich der Größe keine präzise Zahl genannt werden kann, ist klar, dass man mit 20 Prozent keine Volkspartei mehr sein kann. In der Hochzeit der Volksparteien (1950–1975) haben diese Parteien je einzeln zwischen 35 und 50 Prozent der Wählerschaft vertreten, gemeinsam bisweilen mehr als 90 Prozent. Österreich und Deutschland galten als Paradebeispiele. Heute erreichen die Volksparteien kaum mehr die Mehrheitsgrenze von 50 Prozent, gemeinsam, versteht sich.

Was sind eigentlich die Gründe, die zum Niedergang der Volksparteien führten? Da ist zunächst die Individualisierung unserer Gesellschaft. Diese lässt sich nicht mehr einfach in die sozialen Großaggregate Arbeiter, Angestellte, Selbstständige und Unternehmer unterteilen.

Sie ist unendlich stärker differenziert: differenziert in ihren Einkommen, ihrem Sozialstatus, ihren Konsumgewohnheiten und Lebensstilen. Eine so ausdifferenzierte Gesellschaft verlangt zusehends auch nach einem ausdifferenzierten Parteienangebot. Die Wähler sind wählerischer geworden. Große Stammwählerschaften, die die Volksparteien über Jahrzehnte hinweg stabilisiert haben, gehören der Vergangenheit an. Die alten Milieus, die ganze Wählergenerationen über den gesamten Lebenszyklus hinweg an eine Volkspartei gebunden haben, gibt es so nicht mehr.

Was sollte denn gegen eine flexible, ausdifferenzierte und pluralistische Parteienlandschaft einzuwenden sein? Endlich hat das Publikum mehr politische Optionen. Aus der individuellen Wählerperspektive trifft das tatsächlich zu. Gilt das aber auch für die kollektive politische Ordnung oder die Gesellschaft als Ganzes?

Nein – lautet die klare Antwort. Unsere Gesellschaften sind nicht nur sozial differenzierter, sondern auch kulturell heterogener geworden. Beides birgt ein hohes Potenzial an gesellschaftlicher Desintegration. Gerade in dieser Situation sind politische Integrationsmechanismen unverzichtbar.

Volksparteien erfüllten diese Funktion in der Nachkriegszeit in erheblichem Umfang und mit großem Erfolg. Damals war unsere Gesellschaft aber ungleich homogener. Das Dilemma, das sich heute offenbart, ist: In dem historischen Moment der Heterogenisierung, in dem die Volksparteien als politische Brückenbauer benötigt würden, befinden sich diese aus ebenjenem Grunde im Niedergang.

Die Politik ist turbulenter geworden. Gleichzeitig wird es aufgrund der Fragmentierung der Parteienlandschaft schwieriger, kompakte, kooperative und handlungsfähige Regierungskoalitionen zu bilden. Die Bundesrepublik Deutschland macht diese Phase instabiler Regierungspolitik gerade durch. Es ist eine nachholende europäische Normalisierung. Auch für Deutschland gibt es keinen Sonderweg. Doch es wird schwer werden für unsere Demokratie, in Zukunft ohne starke und stabile Volksparteien auszukommen.

Der Autor, Wolfgang Merkel, ist Politikwissenschaftler am Wissenschaftszentrum Berlin.

Wolfgang Merkel

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