Den Brexit vollenden: Boris Johnson – ein Dünnhäuter auf Siegeskurs
Die Torys entziehen sich Debatten, drohen dem Fernsehen und wollen mehr Einfluss auf die Justiz. Trotzdem dürften sie am 12. Dezember die Wahlen gewinnen.
Einen Vorteil hat der Wahlkampf im Spätherbst immerhin: Den Stimmenwerbern öffnen weniger Nackte die Wohnungstür als in den milden Frühlingsmonaten. Mit dieser Beobachtung aus ihrem Nord-Londoner Wahlkreis Islington hat Labours außenpolitische Sprecherin Emily Thornberry diese Woche die Politikszene Großbritanniens aufgeheitert. Sollte der unerwünschte Fall doch einmal eintreten, hat die 59-Jährige einen guten Hinweis parat: „Ich schaue nie nach unten.“
Thornberrys Partei hingegen starrt unter der Führung von Jeremy Corbyn vor dem Urnengang am 12. Dezember immerzu nach unten, in das tiefe schwarze Loch der vierten Niederlage in Folge. Im Durchschnitt der Demoskopen liegen die Sozialdemokraten bei knapp 30 Prozent, zehn Punkte niedriger als bei der vorigen Wahl vor zweieinhalb Jahren, und damit deutlich hinter der konservativen Regierungspartei von Premierminister Boris Johnson, die ihren Stimmanteil (42) mehr oder weniger hält.
Was das im britischen Mehrheitswahlrecht bedeutet, haben die Meinungsforscher von YouGov mit einer ungewöhnlich detaillierten Umfrage verdeutlicht. Demnach gewinnen die Torys gut 40 der 632 Wahlkreise Großbritanniens hinzu, die meisten auf Labours Kosten. Während sie 2017, damals unter Theresa May, eine Minderheitsregierung bilden mussten, könnten sie in den kommenden fünf Jahren bequem mit eigener Mehrheit regieren – ganz egal, wie viele der 18 nordirischen Sitze ihre unionistischen Verbündeten diesmal gewinnen.
Gewiss mag am Wahltag alles anders kommen, an warnenden Stimmen mangelt es jedenfalls nicht. Johnsons Chefberater Dominic Cummings hat gerade wieder auf die fortdauernde Gefahr von Leihstimmen für die Brexit-Party hingewiesen; in Wirklichkeit rangiert das Vehikel des Nationalpopulisten Nigel Farage bei drei Prozent und hat keine echte Aussicht auf Sitze im Unterhaus. Umgekehrt verweisen Labour-Aktivisten verzweifelt auf 2017, als die Oppositionspartei in den letzten Wochen mächtig aufgeholt hatte.
Die Bedingungen haben sich geändert
Allerdings sind diesmal die Rahmenbedingungen andere. Theresa May machte mit einer hölzernen und defensiven Kampagne viel Goodwill kaputt, das Tory-Programm war unpopulär, und Corbyn ein begeisterter Wahlkämpfer. Diesmal wirkt der 70-Jährige ausgelaugt, seine Augen sind blutunterlaufen, seine Abneigung gegen die Londoner Medien, normalerweise hinter großväterlicher Ironie verborgen, lässt ihn ungeduldig und abweisend erscheinen. Corbyns Hauptproblem ist aber der neue Bewohner der Downing Street. Angeleitet von Cummings und anderen Funktionären der siegreichen Anti-EU-Kampagne hält der sonst für seine flotten Sprüche bekannte Johnson eiserne Disziplin. So oft wiederholte der 55-Jährige im bisher einzigen TV-Duell der beiden Männer seinen Slogan Get Brexit Done („den Austritt vollenden“), dass das Publikum gelangweilt aufstöhnte.
Damit nicht genug: Seine Regierung werde nicht nur im vierten Anlauf am 31. Januar wirklich, sicher, ganz bestimmt den EU-Austritt bewerkstelligen. Im Tory-Wahlprogramm wird auch ausdrücklich eine Verlängerung der bis Ende 2020 dauernden Übergangsphase ausgeschlossen. Die Verhandlungen über die zukünftige Zusammenarbeit mit der EU müssten also binnen elf Monaten über die Bühne gehen, was der Brüsseler Chefunterhändler Michel Barnier höflich als „sehr schwieriges Szenario“ bezeichnet. Ex-Premier Tony Blair wird deutlicher: „Das ist doch Unsinn.“
Selbst EU-Freunde fordern Lösung beim Brexit
Populär ist der Slogan auf jeden Fall, selbst eingefleischte EU-Freunde sehnen sich nach einer Klärung des leidigen Themas. Dass am Ende der Übergangsphase wieder ein Chaos-Brexit ohne Vereinbarung mit Brüssel drohen könnte, wird kaum erwähnt.
Ähnliches gilt für viele wichtige Probleme, die Bezahlbarkeit der Hilfe für die zunehmend älter werdende Bevölkerung zum Beispiel, die Zukunft der schrumpfenden Streitkräfte – sowie die Klimakrise. Zu diesem Thema hatte der TV-Kanal Channel 4 am Donnerstag eine Debatte organisiert, Johnson verweigerte die Teilnahme. Der Sender stellte kurzerhand eine schmelzende Eisskulptur auf den für Johnson vorgesehenen Platz.
Zuvor hatte der konservative Minister Michael Gove versucht, den Platz von Johnson einzunehmen – und war abgewiesen worden. Die Regierungspartei reagierte nicht nur mit einer Beschwerde bei der Aufsichtsbehörde Ofcom, sondern auch mit wüsten Drohungen: Man müsse, falls wiedergewählt, wohl mal die Lizenz des Kanals überprüfen.
Torys wollen Reform der Gerichte
Auf ähnliche Dünnhäutigkeit lässt eine Passage im Tory-Programm schließen, in dem von einer Reform der unabhängigen Gerichtsbarkeit die Rede ist. Im September hatte der Premier das Unterhaus für fünf Wochen in den Zwangsurlaub geschickt, was der Supreme Court einstimmig für rechtswidrig erklärte. Ob es deshalb „Erfahrungen aus Amerika“ zu berücksichtigen gilt, wie Johnson in einem Medieninterview verlauten ließ – vermutlich mit einer Politisierung der Justiz und öffentlichen Anhörungen für die Höchstrichter? Bei Experten geht die Sorge um, die Konservativen wollten ihren Gesinnungsfreunden in Polen und Ungarn nacheifern und die Justiz stärker unter Kuratel nehmen.
Fragen nach solch kontroversem Umbau der ungeschriebenen Verfassung mochte Johnson auch am Freitagabend nicht beantworten und schickte einen Vertreter zur TV-Debatte der sieben Parteiführer. Seinem Leib- und Magenblatt „Spectator“ hingegen gewährte dessen ehemaliger Chefredakteur, ganz im Stil osteuropäischer Populisten, ein ausführliches Interview.
Der Labour-Frau Thornberry verschaffte eine Wählerbegegnung übrigens wenigstens ein wenig Frohsinn. Zwar öffnete der Mann seine Tür im Adamskostüm, versicherte aber ungefragt: „Natürlich wähle ich Labour, aber jetzt muss ich kochen.“