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Berlin, Breitscheidplatz.
© dpa

Das Ende des Eurozentrismus: Boateng, Özil und Khedira sind erst der Anfang

Nach dem "Dritten Stand" und den Frauen steht eine Emanzipation historisch noch aus: die der Dritten Welt. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Andrea Dernbach

Jede Revolution beginnt in den Köpfen. Und zwar vor allem in den Köpfen derer, die auf die Barrikaden steigen, die etwas zu gewinnen und wenig zu verlieren haben. Deshalb ist kein Schlachtruf das wohl berühmteste Wort der berühmtesten Revolution geworden, sondern, zu Recht, die rhetorische Frage des Abbé Joseph Emmanuel Sieyès: „Was ist der Dritte Stand? – Alles.“ Dieses „Dritte“ hatte jahrhundertelang 98 Prozent der Bevölkerung Frankreichs, also tatsächlich so gut wie alle, nach den erstplatzierten Klerus und Adel, auf etwas Randständiges heruntergedrückt. Der Satz des Abbé, am Vorabend der Französischen Revolution in einem Pamphlet verbreitet, setzte sie in ihr Recht ein – und eine angeblich gottgewollte Gesellschaftsordnung außer Kraft. Im Slogan der Occupy-Bewegung klingt das mehr als 200 Jahre später nach: „Wir sind die 99 Prozent.“ Adels- und Priesterkaste sind inzwischen noch um einen Prozentpunkt kleiner.

Die Erkenntnis, alles zu sein, ist ein Weg der Selbstermächtigung. Der andere ist der, diejenigen radikal infrage zu stellen, die genau das und zu Unrecht für sich in Anspruch nehmen. Was wäre aus der Frauenbewegung geworden – die übrigens auch im Jahr 1789 wurzelt –, hätte sie sich lange darauf beschränkt, nur ein Stück vom Kuchen zu fordern? Sehr wahrscheinlich hätte sie nur mehr frauenfresserische Kampfschriften zum „Physiologischen Schwachsinn des Weibes“ oder „Geschlecht und Charakter“ provoziert, die zu beweisen gesucht hätten, wie unrealistisch, unrechtmäßig und widernatürlich es wäre, ihnen auch nur einen Krümel zu geben. Stattdessen stellten die Frauen recht bald im Laufe ihres langen Marsches den ganzen Laden auf den Kopf: „L’homme“, „The man“, ihr seid nicht, wie ihr behauptet, die Menschheit, sondern bestenfalls die Hälfte davon. Und nicht einmal die bessere.

„Weil sie zwischen den Beinen anders aussehen als ich“

Den Spieß einfach umdrehen: Der jüngere Erfolg der Quote ist auch dieser Strategie zu verdanken. Sie wurde als Elitenprojekt geschmäht und als Schutzraum für die, die’s anders nicht schaffen. Seit sie bis ins konservative Lager hinein akzeptiert und praktiziert wird, ist nun die Gegenseite unter Begründungszwang: Wie haben Sie’s denn so weit nach oben geschafft, meine Herren? War nicht Mann zu sein die eigentlich Bedingung, nicht Qualifikation? „Manche Frauen haben nur deshalb obere Listenplätze“, vermutete vor circa einem Vierteljahrhundert Friedhelm Farthmann, ein mächtiger Sozialdemokrat in Nordrhein-Westfalen, „weil sie zwischen den Beinen anders aussehen als ich.“ Heute würde ihm vielleicht die Vulgarität des Satzes vorgeworfen, die Antwort wäre klar: Umgekehrt wird ein Schuh daraus, Herr Professor. Die alten Schlachten sind nie vollständig geschlagen. Weit gekommen sind sie aber, die Bürger sowieso, die 1789 revoltierten, und auch die Frauen. Eine neue Emanzipation steht aber noch gänzlich aus: die des globalen Dritten Standes, der einmal Dritte Welt hieß. Auch dafür muss erst wieder in den Köpfen aufgeräumt werden: Sind die nicht selber an ihrem Elend schuld, sind wir hier im Norden nicht einfach die Besseren, Klügeren, Entwickelteren? 500 Jahre europäisch-westlicher Dominanz haben allen, den historischen Gewinnern wie den Verlierern, diese Hierarchie in die Hirne geschrieben, die naturgegeben erscheint und doch nur das Ergebnis eines alten Machtgefälles ist oder unterschiedlicher Startbedingungen. Die Ärztin aus Afrika, die hier putzen geht, der Lehrer, der als Spüler in der Restaurantküche arbeitet – wer sie wirklich sind, ist ihnen nicht anzusehen. Was man sieht, verewigt das Klischee vom dienenden Schwarzen.

Die eurozentrische Sicht der Dinge war nie unumstritten. Sie muss aber inzwischen mit einer Gegenrede rechnen, die lauter wird. Aktivisten, Migrantenorganisationen und Wissenschaftlerinnen erforschen und machen öffentlich, welche Gewalt es brauchte und braucht, um den Abstand zwischen denen da oben im Norden und denen da unten im Süden der Welt herzustellen und zu halten. In einem Land, dessen Unter-Sechsjährige schon in der Mehrheit die Kinder von Migranten sind, ist die Festlegung von Oben und Unten entlang ethnischer Grenzen soziales Gift. Der weltweite Dritte Stand wird auch in Deutschland bald alles sein. Die deutschen Weltmeister Boateng, Özil, Khedira sind erst der Anfang. Sind genug Köpfe darauf vorbereitet? Die Kanzlerin hatte sich zu ihrem 60. Geburtstag schon einmal einen der nicht vielen deutschen Globalhistoriker als Festredner eingeladen. Das lässt hoffen.

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