Afghanistan: BND-Chef Kahl: Anschläge sind überall möglich
Bundesnachrichtendienst und Vereinte Nationen zeichnen ein düsteres Afghanistan-Bild: Die Islamisten beherrschen 40 Prozent der Fläche, 2017 gab es mehr als 10 000 zivile Opfer.
Die prekäre Sicherheitslage in Afghanistan bereitet dem Bundesnachrichtendienst (BND) zunehmend Sorge. „Wir gehen davon aus, dass bis zu 40 Prozent der Fläche in Afghanistan nicht mehr von den staatlichen Sicherheitskräften kontrolliert werden, sondern den Taliban und weiteren Widerstandsgruppen anheimgefallen sind“, sagte BND-Präsident Bruno Kahl dem Tagesspiegel. Derzeit deuteten „alle Anzeichen darauf hin, dass sich die Sicherheitslage vorerst nicht signifikant verbessert“.
Die Taliban und der Ableger der Terrormiliz „Islamischer Staat“ in Afghanistan seien in der Lage, „selbst in dem mit Sicherheitskräften reichlich versorgten Kabul verheerende Anschläge zu begehen“, sagte der BND-Chef. Das bedeute eine andauernde Gefahr „auch für deutsche Soldaten und deutsche Einrichtungen“ im Land. Kahl betonte, in allen Regionen Afghanistans sei es „immer wieder möglich, dass es zu Anschlägen kommt“. Die Taliban verfügten über ungefähr 30 000 aktive Kämpfer. US-amerikanische Sicherheitsexperten hatten kürzlich sogar von 60 000 gesprochen.
Die Aussichten, den Kampf gegen die Taliban, den IS und weitere Terrororganisationen zu gewinnen, bewertete Kahl skeptisch. Es sei schwierig, „in Afghanistan von nachhaltigen Erfolgen zu sprechen“. Als einen Grund nannte Kahl das gebirgige Gelände. „Das zeigt ja auch die Geschichte, in Afghanistan sind das britische Kolonialreich und die Sowjetunion gescheitert“, sagte der BND-Präsident. „Und auch heute ist es für die Sicherheitskräfte ein anspruchsvolles Unterfangen, die Kontrolle über das gesamte Land zu erringen.“ Die Amerikaner versuchten gemeinsam mit den afghanischen Sicherheitskräften, die Taliban zurückzudrängen und zu dezimieren, sagte Kahl. „Mit dem Ziel, nach einer Schwächung der Taliban in Friedensverhandlungen einsteigen zu können.“
Die Vereinten Nationen ziehen eine dramatische Bilanz
Eine dramatische Bilanz ziehen zudem die Vereinten Nationen. Im vergangenen Jahr hätten Selbstmordanschläge und weitere „komplexe Attacken“ 2295 zivile Opfer gefordert, heißt es in einem Bericht, den der UN-Sonderbeauftragte für Afghanistan, Tadamichi Yamamoto, am Donnerstag in Genf veröffentlichte. Von den 2295 Opfern seien 605 getötet worden, die anderen hätten Verletzungen erlitten. Die Zahl der Opfer von Anschlägen bedeute eine Zunahme um 17 Prozent gegenüber 2016 und sei der höchste Wert seit Beginn der systematischen Erfassung ziviler Opfer im Jahr 2009.
Etwas rückläufig, aber immer noch enorm hoch ist die Gesamtzahl ziviler Opfer in Afghanistan. Sie berücksichtigt auch die Toten und Verletzten bei Kämpfen zwischen Sicherheitskräften und islamistischen Rebellen. Demnach registrierten die UN 2017 insgesamt 10 453 zivile Opfer, darunter 3438 Tote. 861 getötete Opfer waren Kinder.
Es handele sich um eine „schaurige Statistik“, sagte Yamamoto. Dass die Zahl aller zivilen Opfer gegenüber 2016 um neun Prozent sank, sei angesichts der nicht enden wollenden Gewalt kein Trost, sagte der UN-Funktionär. In den Jahren 2009 bis 2017 wurden in Afghanistan mehr als 80 000 an dem Konflikt unbeteiligte Menschen verletzt oder getötet. Ein Fünftel der Opfer geht den Angaben nach auf das Konto der Regierungstruppen und ihrer Verbündeten, darunter auch westliche Einheiten.