Legitimationsprobleme der Politik: Bitte die Logenplätze verlassen und Orientierung bieten!
Eine orientierungslose Gesellschaft ist eine Gesellschaft in Not. Da könnte Politik viel anbieten: Kontexte, Deutungsmuster, Zukunftsstrategien. Aber wer danach sucht, findet nichts. Ein Gastbeitrag
Politik verkommt zur Inszenierung von Machtspielchen. Da werden Tag und Nacht Verhandlungen vorgeführt, während die Schlüssel-Entscheider schon ihre Übereinkunft eingepackt haben. Man benötigt offenbar noch einen medialen Spannungsbogen. Jamaika führte das noch mit schönen Bildern von den Balkons der Treffpunkte vor.
Das ist jedoch weit weg von der großen Aufgabe, den öffentlichen Raum aus überzeugenden Ideen heraus zu gestalten, rational die Mitverantwortung als Bürger und als deren Repräsentanten umzusetzen. Die Wahlergebnisse quittieren diese Merkwürdigkeiten. Sie belegen im Blick auf die Traditionsparteien das jeweilige Führungsdilemma ebenso wie den Autoritätsverlust. Die herkömmlichen Parteien verlieren an Zustimmung und zugleich dockt die Frustration der Wähler anderswo neu an. Der politische Apparat läuft einfach weiter, als sei nichts passiert. Mit Legitimationskrise ist jener lähmende Mehltau zu beschreiben, der sich über die Republik gelegt hat. Der Traum vom Aufbruch in eine neue historische Epoche sieht anders aus.
Die Politik begegnet den großen historischen Herausforderungen – von der neuen Völkerwanderung über die terroristische Gefahr bis zur aktuellen weltpolitischen Risikolandschaft – entweder mit Ratlosigkeit oder mit situativem Krisenmanagement. Die Sehnsucht der Bürger nach strategischen Zukunftsperspektiven bleibt unbeantwortet.
Die Politik nimmt Abschied vom kulturellen Horizont. Eine politische Elite bleibt sprachlos. Der Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD entfaltet diese strategische Sprachlosigkeit auf 177 Seiten. Dort reiht sich Detail an Detail: Das Kindergeld soll um 25 Euro im Monat erhöht werden. Es soll auch Baukindergeld geben. Die sachgrundlose Befristung von Arbeitsverhältnissen soll auf 18 statt bisher 24 Monate begrenzt werden. Der Mindestlohn in der Pflege soll in Ost und West künftig gleich hoch sein. Der Solidaritätszuschlag soll abgebaut werden und zusätzliche Haushaltsmittel sollen für die europäische Union bereitgestellt werden. Die Sondierungsvereinbarung der Jamaika-Koalition hatte eine ähnliche politik-buchhalterische Fleißdetail-Liste.
Niemand packt an, um Problemlösungen zu finden
Politik aber verlangt erheblich mehr als nur solche kleinen Einzelpunkte. Politik verlangt Kontexte, Deutungsmuster, Gesellschaftsbilder, Zukunftsstrategien. Aber wer danach sucht, muss ernüchtert feststellen, dass zu alledem nichts zu finden ist.
Dieses Phänomen raubt dem Beobachter den Atem. Der Problembefund ist so evident – aber niemand packt an, um Problemlösungen zu liefern. Wer die Papiere der diversen Regierungsbildungsansätze liest, merkt sofort: Nicht einmal auf die Suche nach einem Kompass hat man sich begeben: Außenpolitische Strategie, weltpolitische Mitverantwortung, sicherheitspolitische Risikobewältigung, demographische Strukturverschiebungen, Bewahrung des Naturraumes, Zukunftsvision – alles Fehlanzeige. Offenbar gewöhnt man sich an eine Politik ohne Faszinosum. Das Pokern um Punkte allein reicht aber nicht aus. Das Wabern im politisch-kulturellen Unterfutter weist inzwischen Populismus und Antisemitismus auf.
Die Anfrage und die Erwartung an die politische Führung ist nicht von irrealen Ansprüchen getragen. Das zeigt ein Blick in die bisherige Geschichte der Bundesrepublik Deutschland: Ein Konrad Adenauer lieferte nach der abgründigsten und katastrophalsten Epoche deutscher Geschichte die neue Aufbauperspektive. Er bot eine neue Vertrauensarchitektur mit europäischer Einigung und Westanbindung. Er kreierte so – mit Hilfe Ludwig Erhards – das Wirtschaftswunder und gewann bei den Wahlen 1957 sogar die absolute Mehrheit. Ein Willy Brandt bot den neuen Aufbruch mit ,Demokratie fängt jetzt erst an' und ,Wandel durch Annäherung'. Die Entspannungspolitik bahnte sich ihren Weg. Menschliche Erleichterungen wurden Wirklichkeit. Ein Helmut Kohl wurde zwar zunächst belächelt wegen seiner Ankündigung von der ‚geistig-moralischen Wende’. Aber dann war die Resonanz spürbar: ‚Die Schöpfung bewahren’, ‚Gesellschaft mit menschlichem Gesicht’. Die Überwindung der Teilung Deutschlands und der Teilung Europas wurde zum großen Thema der Geschichtsbücher.
Und wo bleibt diese politische Leistung heute? Eine Gesellschaft ohne Orientierung ist eine Gesellschaft in Not.
Der Ost-West-Konflikt war eine Quelle der Orientierung
Der Kern des Vorgangs ist fassbar: Jede Person und jede Gesellschaft muss permanent die geradezu unendliche Vielzahl eingehender Informationen filtern und ordnen. Dies gilt insbesondere in Zeiten einer dramatisch gestiegenen Komplexität. Man denke an Globalisierung und Digitalisierung, an technologischen Fortschritt und demographischen Wandel – der Ordnungsbedarf ist immens. Geschichte und Politik liefern dazu normalerweise Orientierungswissen, das die einzelnen Daten in verständliche Kontexte einordnet. In Zeiten des Ost-West-Konflikts war diese politische Ordnung eines weltweiten Antagonismus eine große Quelle der Orientierung. Seitdem diese Ära einer weltpolitischen Architektur untergegangen ist, richtet sich die Nachfrage an Orientierung direkter und massiver an innenpolitische Produzenten. Die politische Artistik versorgt jedoch seither die Antennen politischer Aufmerksamkeit fast ausschließlich mit machttechnischen Finessen.
Die Vormoderne hat Identität gestiftet durch relativ einfache, überschaubare Lebensformen, durch geschlossene Weltbilder, durch ein stabiles Milieu und durch einen öffentlichen Konsens über die Alltagsbedeutung des Transzendenzbezugs des Menschen. In der Moderne sind diese kulturellen Rahmenbedingungen nicht mehr gegeben: wachsende Kompliziertheit sozialer Organisationen, Pluralisierung der Lebenswelten, Anonymität sozialer Regelungen, Mobilität und steigende Verfallsgeschwindigkeit historischer Erfahrungen. Die Wissenssoziologie spricht in diesem Zusammenhang ganz anschaulich vom Leiden des modernen Menschen an einem sich dauernd vertiefenden Zustand der Heimatlosigkeit.
Wenn wir Politikversagen in jener dramatischen Art heute feststellen, dann müssen wir uns einen existentiellen Sachverhalt vor Augen halten: Wir sind in der politischen Sinngebung unseres Lebens nicht Logenplatzinhaber, die gelangweilt und entspannt dem Heilsdrama auf der Bühne folgen. Nein – wir sind Teilhaber, Mitverantwortliche, wir sind Mitwirkende. Wir müssen Deutungen, Erklärungen, Zukunftsbilder liefern – sei es als Politiker, Wissenschaftler, Journalisten oder aktive Mitbürger. Diese Mitwirkungspflicht müssen wir besonders ernst nehmen. Andernfalls wird es uns nicht gelingen, Staat und Gesellschaft aus seiner Not zu befreien.
- Professor Werner Weidenfeld ist Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung der Ludwig-Maximilians-Universität in München und Rektor der Alma Mater Europaea der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste in Salzburg.
Werner Weidenfeld