Michelle Müntefering im Wahlkampf: „Bist du so weit?“
Sie kann auf vier Fingern pfeifen. Aber beim heimischen Schützenumzug war sie noch nie. So erlebt Michelle Müntefering derzeit ziemlich oft, was es heißt, Politikerin zu werden. Sie will in den Bundestag. Mit 33 Jahren und einem berühmten Ehemann.
Sie haben viele Prominente hier, im SPD-Ortsverein Wanne-Süd. Gerd Wippich, der Vorsteher, zählt sie auf: einen ehemaligen Herner Oberbürgermeister, den Chef der Entsorgungswerke, nicht zu vergessen den amtierenden Bürgermeister von Herne-Wanne. Und „die Michelle“ natürlich, „unsere Bundestagsabgeordnete“.
Wippich wirft einen Blick hinüber zu der jungen Frau in der eleganten Seidenbluse. Es ist ein dunkler Nachmittag kurz vor Weihnachten. Der Ortsverein feiert mit Kartoffelsalat und Hackbraten in einem Gemeindehaus in Wanne-Süd. Nebenan in der Kirche singen Arbeitslose mit leeren Gesichtern „Stille Nacht, Heilige Nacht“.
„Die Michelle“ also. „Bundestagsabgeordnete“ ist sie streng genommen noch nicht. Aber der Wahlkreis Herne-Bochum II ist schon seit 1961 in sozialdemokratischer Hand. Daran wird sich auch diesmal nichts ändern, da ist sich Wippich sicher, schon gar nicht mit der Michelle. Die ist erst 33 Jahre alt. Seit 14 Jahren in der SPD. Seit neun Jahren im Stadtrat von Herne. Ebenso lange Mitglied im Landesvorstand NRW. Sie wusste schon immer, wo sie hin wollte, sagt Wippich. Sie bringe frischen Wind in die Veranstaltung, Technologiethemen zum Beispiel. „Die zieht die Jungen an, aber sie hat auch einen guten Draht zu den Leuten, die nicht so auf der Sonnenseite sind, sag’ ich mal.“
Gerade steckt die zukünftige Bundestagsabgeordnete einem wuchtigen Kerl mit Vollbart eine Ehrennadel – „Für 40 Jahre treue Mitarbeit an unseren gesellschaftlichen Zielen“ – an den Pullover. „Sieht schick aus“, sagt sie und klopft ganz leicht mit der Hand auf das Stück Metall an der Bärenbrust, aus der ein Dankeschön klingt, als würde ein ausgefranster Bogen über die Saiten eines Kontrabass gezogen. „Als der Jost Mitglied geworden ist“, sagt die junge Frau, an alle gerichtet, lag die Wahlbeteiligung in Deutschland bei 91 Prozent. Das können wir wieder schaffen!“ Applaus.
Gerd Wippich knetet gerührt seine Finger und sagt ein bisschen verlegen: „Ich liebe die Michelle wie meine eigene Tochter. Könnte ja auch hinkommen, so vom Alter her.“
Ihr Mann kommt zwei, drei Schnapsrunden später am Abend. „Da isser“, wispert eine ältere Dame, die meisten versuchen, nicht zu offensichtlich begeistert zu sein. Franz Müntefering macht die Runde, erst um den Tisch rechts, dann um den Tisch links, gut 20 Mal Händeschütteln, seine Frau begrüßt er, ohne sie zu berühren. Er nimmt Platz am Kopfende eines Tisches, steht bald wieder auf, verteilt den mitgebrachten Eierlikör. Er nimmt auch einen, hält das Gläschen mit Daumen und Zeigefinger am winzigen Henkel und prostet in die Runde.
Der Mann ist jene andere Sorte Prominenter. Jene Sorte, bei der sich die Leute auf der Straße gegenseitig die Ellenbogen in die Rippen stoßen und „Guck mal“ sagen. Und trotzdem ist der Mann von Michelle Müntefering, geborene Schumann, ja jetzt irgendwie auch einer von ihnen.
Im Café Einstein Unter den Linden in Berlin stößt niemand dem anderen in die Rippen, als sich Franz Müntefering an einem warmen Sommertag den Weg zu einem Platz am Fenster bahnt, um seine Frau abzuholen, die gerade ein Interview gibt. Die Pose, um die sich die Leute in Herne bemühen, jene demonstrativ gelangweilte Gelassenheit, ist in der Hauptstadt keine Pose. Franz Müntefering hat keine Eile, er schlendert, die Hände in den Hosentaschen. „Bist du so weit?“ Das hier ist sein Revier, seine Selbstverständlichkeit. Auch, wenn er sich entschlossen hat, im September nicht mehr für den Bundestag zu kandidieren und den obersten Hemdknopf schon offen trägt.
Michelle Müntefering sagt über Berlin: „Ich mag die Stadt sehr gut leiden.“ Sie freue sich, hier vielleicht bald mehr Zeit zu verbringen – auch, wenn sie als Bundestagsabgeordnete natürlich nur „auf Montage unter der Kuppel“ sein und weiterhin viel Zeit in Herne verbringen würde. „Aber hier sind wir ja schon Kreuzberger.“
Erst kürzlich sind sie und ihr Mann aus der kleinen Wohnung im Graefekiez ausgezogen, die sie noch aus ihrer Zeit als Volontärin beim „Vorwärts“ hatte, aber nur ein paar Blocks weiter Richtung Mitte. Sie mag das Leben in Kreuzberg. „Weil es bodenständig, kreativ und in sich so unterschiedlich ist.“ Und sie betont, dass auch der Berliner Politikbetrieb für sie nicht mehr neu ist, dass sie ihren Mann nicht braucht, um sich zurechtzufinden. Dass die Politikerin Michelle Müntefering in sich selbst verständlich ist.
Ein Jahr zuvor, im Sommer 2012, stellt jemand bei Wikipedia einen Löschantrag. Michelle Müntefering soll getilgt werden. Die Debatte tobt. Verdient eine deutschlandweit eher unbekannte Bundestagskandidatin aus dem Ruhrgebiet einen Eintrag im digitalen Weltlexikon? Verdient sie einen Eintrag, weil sie mit einem bekannten Mann verheiratet ist? „Nichts, aber auch rein gar nichts macht diese Frau relevant“, schreibt User „ahz“ am 18. September 2012. Der Löschantrag wird abgelehnt. Michelle Müntefering ist relevant.
Ihm, dem unangefochten Relevanten, fällt es leichter, über die Beziehung zu sprechen als ihr. Er hat es in der „Bild“ getan, bei Markus Lanz, in der „Zeit“. Michelle Schumann und Franz Müntefering haben sich 2008 kennengelernt, als die junge Lokalpolitikerin begann, in seinem Abgeordnetenbüro zu arbeiten. Im Juli 2008 starb Münteferings Frau an Krebs. Ein Jahr später begannen Gerüchte zu kursieren, Müntefering habe wieder eine Beziehung, zu einer viel jüngeren Frau. Mitte 2009 machte er die Beziehung öffentlich, Ende desselben Jahres heirateten die beiden. Er sagt, dass er jetzt wieder Auto fährt und mehr reist denn je.
Michelle Müntefering ist zurückhaltender. Wie das ist, wenn eine junge Frau mit großen Ambitionen und ein SPD-Urgestein zusammenziehen, erfährt man aus Nebensätzen: Ihre Wohnung in Kreuzberg war winzig, aber Franz Müntefering brachte „seine gefühlten 500 Krawatten mit“, es gibt „einen riesigen Schrank“. Jemand, der ihre Wohnung einmal besucht hat, erwähnt, dass sein erster Gedanke gewesen sei: „Wie kommt denn der Franz jemals wieder von dieser Futonmatratze hoch.“ Ein richtiges Bett gab es nicht. Ja, die Leute reden. In Herne, in NRW, auch in Michelle Münteferings Ortsverein. Dass das ja nicht „normal“ sei, wenn so jemand Altes und eine so junge Frau... „Sie wissen schon. Verstehen Sie das?“
An dem Abend im Gemeindehaus sitzen Michelle und Franz Müntefering eine ganze Weile mit dem Rücken zueinander, er nach rechts, sie nach links ins Gespräch vertieft. 2012 wurde bekannt, dass Michelle Müntefering für den Bundestag kandidieren würde. Sie machte die Ochsentour durch 60 SPD-Ortsvereine in ihrem Wahlkreis und setzte sich gegen eine Mitbewerberin durch.
Während sie jetzt über die Nachfolge in ihrem Ratsmandat plaudert, unterhält sich Franz Müntefering mit zwei älteren Damen darüber, wie Weihnachten früher war. Wie seine Mutter den Zucker aufbewahrt hat. Dass er einmal ein Steckenpferd geschenkt bekam. Beide haben eine ausschließliche Art zuzuhören, ohne je den Blickkontakt zum Gesprächspartner zu verlieren, beide stützen dabei das Kinn in die Hand.
Erst später wendet sich Franz Müntefering seiner Frau zu, die beiden wechseln ein paar Worte, sie entfernt mit dem Handrücken eine imaginäre Staubflocke vom Revers seines Anzugs. „Fährst du nach Hause?“, fragt er, „du hast doch ein Radler getrunken.“ Aber mehr Limonade als Bier, sagt sie und dann, in die Runde: „Zwei Sachen darf ich nicht machen im nächsten Jahr, hat der Franz mir gesagt: betrunken Auto fahren und meinen Mann umbringen.“ Die Runde lacht, Franz Müntefering schenkt Eierlikör nach.
Die Leute, die über die neue Ehe des Politikers reden, die Jugend der Frau, beeilen sich meist, hinzuzufügen, das müsse ja jeder selber wissen. Man habe sich ja nicht einzumischen. Das sei selbstverständlich.
Michelle Müntefering versucht, sich nicht zu ärgern. Nicht über das Gerede. Nicht über die Medienberichterstattung. Einmal, zum Beispiel, zeigt Stern.de sie in einer Fotostrecke. Unter ihrem Bild steht: „Franz Müntefering verabschiedet sich aus dem Bundestag – und schickt die übernächste Generation, Verzeihung: seine Ehefrau Michelle, 33, ins Rennen.“
An einem Tag Ende April trifft diese Generation auf die Tradition, auf das Maiabendfest in Bochum Harpen. Es ist zehn Uhr morgens und kühl. Die Regenwahrscheinlichkeit liegt bei 20 Prozent. Jörg I., diesjähriger König des Bürgerschützenvereins Bochum-Gerthe, grüne Uniform, Bürstenhaarschnitt, nimmt im Alten Amtshaus den Einzug der Marschkapellen ab, das erste Pilsken in der Hand und eine Sorgenfalte auf der Stirn. „Ist doch nur einmal im Jahr, so ein Ausmarsch“, brüllt er über das Tschingderassa hinweg, als finde er Petrus’ mangelnde Unterstützung in diesem Moment mächtig kleinlich.
„Michelle, darf ich dir unseren diesjährigen Schützenkönig vorstellen?“
Michelle Müntefering trägt Jeans, eine Daunenjacke und Wanderstiefel. Sie wird von Susanne Mantesberg begleitet, die SPD-Bezirksbürgermeisterin, die ebenfalls wetterfest gekleidet ist und sie mit den Honoratioren bekannt macht. Michelle Müntefering brüllt gegen den Lärm an, dass sie zum ersten Mal dabei ist, lächelt und schüttelt dem Schützenkönig die Hand. „Joa, da muss man mal dabei gewesen sein.“
Jörg I. wird später sagen, er finde, dass Michelle Müntefering ein „ganz normaler Mensch“ ist. Im Ruhrgebiet, wo es als einer der gravierendsten Charakterfehler gilt, sich für etwas Besseres zu halten, gehört das zu den schönsten Komplimenten, die man als Politiker bekommen kann.
Nicht nur in der SPD Herne gilt Michelle Müntefering als Naturtalent. Von 2008 bis 2009 besuchte sie die Führungsakademie der Partei. Sie artikuliert klar und präzise, keine Füllwörter, kein Zögern, nichts Überflüssiges. Wie ihr Mann. Ihre Vorbilder sind Peer Steinbrück und Hannelore Kraft. Steinbrück hat sie im Jahr 2000 kennengelernt, damals war er noch Finanzminister von NRW und traf die Gruppe von Müntefering an der Kommunalakademie der SPD zum Kamingespräch.
„Wir dachten, der geht bestimmt zum Lachen in den Keller“, erinnert sie sich.
Aber es wurde ein langer Abend. Steinbrück sei bis zwei Uhr morgens geblieben, sagt Müntefering. „Er war locker, intelligent und auf der Höhe der Zeit. Und er war der Einzige, der unsere Gruppe später eingeladen und den Kontakt intensiviert hat.“ Der Respekt ist gegenseitig. Steinbrück hat sich immer wieder lobend über Michelle Müntefering geäußert.
„Komm, Michelle, et gibt Gewerkschaftsbrause“, ruft ein älterer Herr in Uniform durch den Festsaal. Michelle Müntefering tauscht ein wenig widerwillig ihren Kaffeebecher gegen ein Sektglas. Der ältere Herr gehört zu den Bürgerschützen Harpen und kommt schnell zur Sache: Das Alte Amtshaus, in dem der Aufzug stattfindet, ist schwer sanierungsbedürftig. 700 000 Euro müssten her.
Später werden einige Herren vom Bürgerschützenverein sagen, dass sie sehr hoffen, dass Michelle Müntefering ihnen helfen kann, mit ihrem Haus. Sie habe ja schließlich Beziehungen.
Dem Mangel begegnet Michelle Müntefering überall, wenn sie durch ihren Wahlkreis fährt. Ihre Heimatstadt Herne schrumpft, es gibt immer weniger Schüler. Seit sie schulpolitische Sprecherin des Stadtrates ist, hat die Stadt fünf Schulen schließen müssen. „Wir müssen immer sehr gut überlegen, wo wir investieren – und dann entdecken sie plötzlich Hausschwamm in einem Dachstuhl, und man muss da 800 000 Euro reinstecken“, erzählt sie. Das Haushaltsdefizit betrug 2012 65 Millionen Euro. Bochum, die Nachbarstadt, in die sich Michelle Münteferings Wahlkreis hinein erstreckt, hat erst Nokia verloren und wird Opel verlieren. Michelle Müntefering sagt: „Berlin trägt mit Verantwortung dafür, wie’s mit dem Ruhrgebiet weitergeht.“ Dafür will sie sich einsetzen, wenn sie in den Bundestag kommt. Und für einen besseren Verbraucher- und Datenschutz.
Draußen auf der Straße sortieren sich etwa 250 Menschen unter blau-weißen Wimpeln. Kundige Hände schieben Michelle Müntefering an den schmalen Schultern ein wenig nach links, ein wenig nach rechts, dann in die Mitte, zwischen die Vereinsvorsitzenden, noch ein Foto und Abmarsch.
Sie singt die Hymne mit. „Blau, blau, weiß und grün sind die Blumen.“ Sie lächelt sich zwei, drei, vier Kilometer die Hauptstraße entlang. „Ja, ja, ja, ja, nee, nee, nee, nee.“ Sie winkt, sie verschenkt Fähnchen an Kinder, die Leute lehnen sich aus Fenstern. Es geht raus auf eine Wiese, vorbei an einem Karussell und einer Dosenwurf-Bude, ohne Trostpreis ein Euro fünfzig, und hinein ins Festzelt.
„Kompanie, Stillstand!“
Michelle Müntefering wird ein letztes Mal sortiert, Händeschütteln. Jemand fragt, ob sie ein Instrument spiele, sie sagt, nee, aber sie könne das hier, steckt vier Finger in den Mund und pfeift.
Die Honoratioren meinen später, sie sei sehr sympathisch. „Ein gutes Gesicht. Würde ich wählen.“
Nach der Erbsensuppe gönnt sie sich eine kurze Auszeit, lehnt draußen vor dem Zelt an der Rückwand eines Anhängers, ruft kurz bei ihrem Mann an. „Und bei dir?“
Franz Müntefering ist heute Morgen schon um halb fünf aus der gemeinsamen Wohnung in Herne aufgebrochen, die sie auch noch haben. Wohin, weiß sie gar nicht so genau, „irgendwo in Deutschland unterwegs, mal sehen, wer zuerst wieder da ist“. Sie geht an diesem Abend noch zu einem Fest des Eine-Welt-Vereins und der SPD, eine Delegation aus dem Kongo ist eingeladen. Am folgenden Wochenende eröffnet sie ein Gewerbegebiet.
„Das Gute ist, dem Franz muss ich das alles nicht erklären.“
Es ist Wahlkampf. Da ist das selbstverständlich.
Anna Sauerbrey