Europas Liberale gegen Orban: "Beschämung der EU"
Wegen des harten Vorgehens gegen die Flüchtlinge bringen die Liberalen im Europaparlament einen Entzug der EU-Stimmrechte für Ungarn ins Spiel.
Angesichts umstrittener Entscheidungen der ungarischen Regierung in der Flüchtlingskrise verlangt die liberale Alde-Fraktion im Europaparlament die Anwendung des so genannten Artikel-7-Verfahrens gegen Ungarn. Im äußersten Fall könnten Ungarn nach diesem Verfahren die EU-Stimmrechte entzogen werden.
Bevor die Liberalen ihre Forderung, Ungarn zu bestrafen, erhoben hatten, hatte das Parlament in Budapest eine umstrittene Gesetzgebung zum Umgang mit Flüchtlingen verabschiedet. Mit dem neuen Gesetz kann die Regierung die Armee gegen Flüchtlinge an den Staatsgrenzen einsetzen. Außerdem darf die Armee jetzt Waffen wie Gummigeschosse und Tränengas gegen die Flüchtlinge einsetzen.
Zwei Wochen zuvor hatte das Parlament zudem Gesetzesänderungen zum Asyl- und Strafrecht verabschiedet. Demnach kann die Inhaftierung und Ausweisung von Personen erfolgen, die die ungarische Grenze illegal übertreten. Weitere Maßnahmen sind die Ausrufung des Notstands, die strafrechtliche Verfolgung von Grenzverletzern sowie deren Aufnahme in eine schwarze Liste des Schengener Informationssystems (SIS).
Nach Artikel 7 des EU-Vertrags von Lissabon können gravierende Verstöße gegen die Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Menschenrechte durch einen Mitgliedsstaat die Aussetzung oder den Verlust seiner Stimmrechte im EU-Ministerrat zur Folge haben.
Eine Aktivierung von Artikel 7 könnte Ungarn vorübergehend die EU-Mitgliedschaft kosten. Doch vor einer solchen Entscheidung soll der Rat den betreffenden Mitgliedsstaat anhören und kann Empfehlungen aussprechen.
Sophie In' t Veld, erste Vizepräsidentin der Alde-Fraktion, sagte: „Wie viel weiter kann die Orban-Regierung gehen, bevor die Kommission und der Rat aufwachen? Die Alde-Fraktion läutet seit vielen Jahren die Alarmglocken wegen der ungarischen Regierung. Jetzt gerät die Situation außer Kontrolle.“
Belgiens Ex-Außenminister Louis Michel: Orban verstößt gegen die Verträge
Die Alde-Fraktion steht seit der Machtübernahme Viktor Orbans vor fünf Jahren an der Spitze der Gegner der umstrittenen Politik in Ungarn. Durch eine zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament konnte die Regierungspartei Fidesz eine viel kritisierte Verfassungsänderung durchpauken.
Sollten die EU-Kommission und der Rat weiterhin schweigen, würde Europa “jegliche verbleibende Glaubwürdigkeit als Wertegemeinschaft“ verlieren, sagte die Europaabgeordnete In’t Veld. "Straflosigkeit ist der Sargnagel für die Rechtsstaatlichkeit."
Die Flüchtlinge würden vor den Kugeln nach Europa flüchten, würden aber jetzt ihr Leben durch die Kugeln Orbans riskieren, sagte Louis Michel, Mitglied des Ausschusses für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres. "Viktor Orban verstößt ganz klar gegen die Verträge. […]Wenn er der Polizei und der Armee die Möglichkeit dazu gibt, auf diese anfälligen Gruppen zu schießen, die nach Europa kommen, weil sie Schutz suchen, verweigert Orban unsere grundlegendsten Werte. Die Linie wurde überschritten; Artikel sieben des Vertrags muss ausgelöst werden."
Louis Michel ist ein langgedienter belgischer Politiker und Vater des belgischen Premierministers Charles Michel. Nach seiner Meinung stellt sich die Frage, wie lange man noch "den erbärmlichen Populismus" Orbans und die "Beschämung der EU" erlauben wolle.
Belgiens Ex-Außenminister Michel kritisierte auch das Schweigen der Kommission und der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP), der auch Orbans Fidesz-Partei angehört. "Wann wird die Kommission die undemokratischen Extravaganzen Orbans stoppen, die EU-Werte und Verträge verletzen? Die autokratische Tendenz des ungarischen Ministerpräsidenten hat jetzt solche Ausmaße (erreicht), dass die Kommission sich nicht mehr länger hinter ihrer Unbeweglichkeit und Passivität verstecken kann."
Erschienen bei EurActiv. Übersetzt von Alexander Bölle.
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