Sekundarschulreform: Berlin senkt Ansprüche an den Schulabschluss
Viele "Hintertürchen" und weichere Zulassungskriterien: Die Berliner Bildungsverwaltung versucht, die Zahl der Schul-Durchfaller zu senken. Die Wirtschaft ist skeptisch und setzt vermehrt auf eigene Aufnahmetests.
Der Senat hat die Hürden für Schulabschlüsse gesenkt. Sowohl die Berufsbildungsreife – der frühere Hauptschulabschluss – als auch der Mittlere Schulabschluss sind ab diesem Schuljahr leichter zu erreichen als es bisher an den Gesamtschulen möglich war. Zudem kann man mit schlechteren Noten in die gymnasiale Oberstufe aufsteigen. Dies soll nach Einschätzung von Schulleitern die mit Spannung erwartete Bilanz des ersten Sekundarschuljahrgangs verbessern. An diesem Donnerstag beginnen für über 30 000 Zehntklässler die Abschlussprüfungen, darunter 15 000 Sekundarschüler.
Die Neuerungen betreffen vor allem die Mindestanforderungen für die Jahrgangsnoten, die zusammen mit den Prüfungen den Mittleren Schulabschluss (MSA) ausmachen. Als Durchschnittsnote auf dem Zeugnis reicht für den MSA jetzt eine „Vier“. An den früheren Gesamtschulen wurden befriedigende Leistungen verlangt.
Neuerdings ist eine "Sechs" erlaubt
Zudem ist eine „Sechs“ erlaubt, was früher an den Hauptschulen ausgeschlossen war, wenn man den MSA anstrebte. Zusätzlich werden den Schülern etliche Nachprüfungen angeboten, damit sie die Berufsbildungsreife schaffen. „Das Ziel ist: Jeder kommt durch“, formuliert es die Rektorin der Jean-Piaget-Sekundarschule in Berlin-Hellersdorf, Marion Lange. „Es gibt sehr viele Hintertürchen“, beschreibt Lothar Semmel vom GEW-Schulleiterverband das neue und sehr komplizierte Prozedere.
Große Veränderungen gibt es auch beim Übergang in die gymnasiale Oberstufe. Auf den bisherigen Gesamtschulen musste man eine gute „Drei“ erreichen, wenn man das Abitur anstrebte. Jetzt reicht eine schwache „Drei“. Für die Schulen bedeutet das erhebliche Verwerfungen, weil mehr ungeeignete Schüler als bisher in die elften Klassen aufsteigen werden. Um dies zu verhindern, müsse man ihnen schlechtere Noten geben, als sie verdient hätten, beklagen Schulleiter. „Die Leidtragenden sind die Schüler“, stellt Jens Großpietsch, einer der renommiertesten Rektoren Berlins, fest. Seiner Ansicht nach waren die bisherigen Anforderungen bei den Noten zuverlässige Indikatoren für die Abitureignung.
"Die Abschlüsse halten nicht, was sie versprechen"
Zu den Schulen, die von Anfang an vor dieser Entwicklung gewarnt hatten, zählt die Neuköllner Clay-Sekundarschule. Mittelstufenleiter Michael Zielonkowski hat alle neuen Regelungen mit jenen verglichen, die früher für die Gesamtschulen galten. „Die Ansprüche für den MSA bei den Jahrgangsnoten wurden in Bezug auf die notwendige Punktsumme um 38 Prozent abgesenkt“, hat er ausgerechnet. Anlass der Änderungen war die Abschaffung der Haupt-, Realschul- und Gesamtschulen zugunsten der Sekundarschulen. Eines der Hauptziele war, dass weniger Schüler ohne Abschluss bleiben.
Die IHK ist angesichts der Entwicklung besorgt. Schon jetzt hielten die Abschlüsse nicht das, was sie versprächen. „Immer mehr Betriebe konzipieren eigene Aufnahmetests, um die Eignung der Bewerber festzustellen“, berichtet Schulreferentin Nadia Chabbi. Die Bildungsverwaltung bestreitet einen Niveauverlust. Die Änderungen seien den notwendigen Angleichungen unter den drei ehemaligen Schulformen geschuldet.
Berlin gehört zu den Ländern mit der höchsten Durchfallquote - bislang
Um 10 Uhr am Donnerstag wird es ernst: Erstmals nehmen die Sekundarschüler an den Prüfungen zum Mittleren Schulabschluss (MSA) teil. Zunächst steht Deutsch an, dann folgen Mathematik und Englisch. Wer die Anforderungen nicht schafft, bei dem reichen die Punkte aber möglicherweise für die Erweiterte Berufsbildungsreife (EBBR), den früheren Erweiterten Hauptschulabschluss. Wer scheitert, kann es mit einer Nachprüfung versuchen oder die zehnte Klasse wiederholen.
"Man will Erfolge organisieren"
Die Bildungsverwaltung hat etliche Hilfen eingebaut, damit möglichst wenig Schüler ohne Abschluss bleiben. „Da wird nochmal und nochmal nachgeprüft“, beschreibt die Leiterin der Hellersdorfer Jean-Piaget-Sekundarschule die Vorgaben. „Ob die Schüler davon ausbildungsreif werden, weiß man aber noch nicht.“ Hinter dem Vorgehen der Bildungsverwaltung stecke wohl das Bestreben, „dass man Erfolge organisieren will“.
Zu den Erleichterungen zählt, dass jetzt für den MSA eine „Vier“ als Durchschnittsnote auf dem Zeugnis reicht. Bei den Gesamtschulen war bisher eine „Drei“ von Nöten. Hintergrund ist die notwendige Umrechnung des an den Gesamtschulen üblichen Punktesystems in herkömmliche Notenskalen. Das ganze Verfahren ist derart kompliziert, dass eine 80-seitige Handreichung erstellt wurde – mit einer 30 Seiten umfassenden Anlage dazu. „Wenn man eine neue Schulart einführt, dann ist dies für die Schulen einfach Neuland“, wirbt die Sprecherin der Bildungsverwaltung, Beate Stoffers, um Verständnis für die Anlaufprobleme.
Die ehemaligen Hauptschulen und die übrigen Schulen mit eher leistungsschwacher Klientel haben andere Sorgen. Ihnen stecken noch die schlechten Mathematikleistungen der Neuntklässlern in den Knochen, die 2013 bei den Arbeiten zur einfachen Berufsbildungsreife festgestellt wurden. Die Schulen haben sich daher akribisch vorbereitet und auch zusätzliche Übungsstunden angeboten. „Eine Lehrerin hat sich sogar in den Ferien mit den Schülern getroffen“, berichtet die Leiterin der Nobel-Sekundarschule, Renate Lecke. Außerdem wurden anhand der Aufgaben aus den Vorjahren Probeklausuren geschrieben.
Eine Fünf ist bei der Berufsbildungsreife erfolgt
Wer in Mathematik scheitert, ist allerdings noch lange nicht durchgefallen, denn ein „Mangelhaft“ ist bei einer der beiden Arbeiten für die Berufsbildungsreife erlaubt. Es reicht, wenn man in der anderen Arbeit eine „Drei“ erreicht, um die „Fünf“ auszugleichen. Die „Drei“ in Deutsch sei sehr leicht zu schaffen, da der Schreibanteil bei der Berufsbildungsreife sehr gering sei, berichtet ein Sekundarschullehrer. Selbst miserable Deutschschüler könnten das schaffen. Als Erleichterung werten es ehemalige Hauptschulleiter auch, dass an den Sekundarschulen eine „Sechs“ im 10. Jahrgangszeugnis erlaubt ist, wenn man zwei „Zweien“ - etwa in Sport und Ethik - vorweisen kann. Wem eine der beiden „Zweien“ fehlt, darf sogar eine „Drei“ mithilfe einer mündlichen Prüfung zu einer „Zwei“ verbessern.
Berlin gehört seit Jahren zu den Bundesländern mit den höchsten Durchfallquoten. Dies zu ändern, war das erklärte Ziel der Sekundarschulreform. Dass dies nicht automatisch dadurch zu erreichen ist, dass man die Hauptschüler mit den Realschülern mischt und ihnen Nachmittagsbetreuung oder duales Lernen anbietet, stand von vornherein fest, zumal es längst nicht in allen Schulen gelungen ist, eine Mischung zu erzielen. Da blieben dann die schwachen Schüler unter sich.