Freier Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt: Berlin ist für Osteuropäer nicht attraktiv genug
Polnische Arbeitssuchende zieht es eher in Gegenden, in denen höhere Einkommen locken – die Hauptstadtregion zählt nicht dazu.
Es war eines jener Ereignisse, die in der Regel das Etikett „historisch“ verpasst bekommen. Es war der 1. Mai 2004, und an diesem Tag wuchs die EU mit einem Schlag um zehn neue Mitglieder im Osten und Süden. Vom „Big Bang“ war die Rede, vom großen Knall, der das endgültige Ende des „Eisernen Vorhangs“ mitten in Europa begleitete. Allerdings fielen die Schranken seinerzeit nicht komplett: In Deutschland blieb der Arbeitsmarkt für Beschäftigte aus acht Staaten in Mittel- und Osteuropa sieben Jahre lang gesperrt. Aber auch das ändert sich am kommenden Sonntag – ab 1. Mai können auch die Menschen in den mittel- und osteuropäischen Ländern, die der EU 2004 beitraten, von der vollen Arbeitnehmerfreizügigkeit profitieren. Experten rätseln derweil, wie attraktiv der deutsche Arbeitsmarkt für Polen, Tschechen, Ungarn und andere wirklich sein wird.
Als sich die EU vor sieben Jahren erweiterte, nutzte die damalige Bundesregierung unter Gerhard Schröder (SPD) eine Sonderregelung, die Beschäftigten aus dem Osten Europas den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt erschwerte. Die Begründung: Arbeitssuchende aus Polen, Tschechien und den anderen Staaten sollten nicht zu Billigtarifen den heimischen Arbeitnehmern Konkurrenz machen. Nach der Übergangsregelung konnten Beschäftigte aus Estland, Lettland, Litauen, Polen, der Slowakei, Slowenien, der Tschechischen Republik und Ungarn in Deutschland bislang nur unter strikten Bedingungen eine Arbeit aufnehmen: Entweder mussten sie selbstständig sein (siehe Kasten) oder sie benötigten eine Arbeitsgenehmigung.
Andere EU-Mitgliedsländer wie Großbritannien öffneten ihre Arbeitsmärkte unmittelbar nach der EU-Erweiterung, hunderttausende Polen suchten und fanden Arbeit im Vereinigten Königreich (siehe Artikel rechts). Deutschland schöpfte hingegen gemeinsam mit Österreich die europäische Übergangsfrist voll aus – zuletzt erneuerte die Bundesregierung unter Kanzlerin Angela Merkel (CDU) vor zwei Jahren noch einmal die Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Aber auch diese Frist läuft diese Woche aus. Beschäftigte aus Osteuropa brauchen hierzulande keine Arbeitsgenehmigung mehr. Sie müssen sich aber an die hiesigen Gesetzesregelungen halten.
Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) geht nicht davon aus, dass die Neuregelung zu einer Massenwanderung auf den deutschen Arbeitsmarkt führen wird. Zwischen 100 000 und 150 000 Personen, so schätzen die Wissenschaftler, werden künftig pro Jahr aus den acht mittel- und osteuropäischen Staaten nach Deutschland kommen. Dadurch werde aber noch nicht einmal der durch den demografischen Wandel bedingte Rückgang der Erwerbspersonen ausgeglichen.
Unsicher sind sich die Wissenschaftler, ob es mit der Öffnung des deutschen und des österreichischen Arbeitsmarkts erneut zu einer „Umlenkung“ der Zuwanderung kommt. Denn in den vergangenen Jahren haben die unterschiedlichen Geschwindigkeiten, mit denen die EU-Mitgliedstaaten ihre Arbeitsmärkte nach der Osterweiterung geöffnet haben, die Migration stark beeinflusst. Rund 70 Prozent der Migranten aus den acht neuen Beitrittsstaaten wandern seitdem nach Großbritannien und Irland aus, während davor Deutschland und Österreich die Hauptzielländer für Zuwanderer aus diesen Ländern waren. Ob sich nun wieder deutlich mehr Osteuropäer entscheiden werden, nach Deutschland zu kommen, ist in der Wissenschaft umstritten. Durch die jahrelange Auswanderung vor allem nach Großbritannien und Irland hätten sich dort osteuropäische Netzwerke gebildet, außerdem werde in den Schulen zunehmend Englisch und nicht mehr Deutsch gelernt, argumentieren die einen. Vor allem Irland sei aber durch die Wirtschaftskrise deutlich unattraktiver geworden, argumentieren die anderen.
Nach der Ansicht des Experten Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) werden die Arbeitsmigranten – die meisten von ihnen sind Polen – ab Mai innerhalb Deutschlands vor allem in die Regionen gehen, wo sie hohe Einkommen erzielen können. Der Raum Berlin-Brandenburg und die neuen Bundesländer, wo das Lohnniveau immer noch vergleichsweise niedrig ist, zählen nicht dazu. Stattdessen, vermutet Brenke, werde es die Arbeitssuchenden aus dem Osten innerhalb Deutschlands in die Bundesländer ziehen, die auch schon seit der EU-Erweiterung im Jahr 2004 für sie attraktiv gewesen sind: Hamburg, Hessen, Bayern und Baden-Württemberg. Und noch eine Besonderheit hat der Experte festgestellt: Während es für junge Polen nichts Ungewöhnliches ist, die Heimat für einen besseren Job zu verlassen, wagen Tschechen den Schritt über die Landesgrenze für die Arbeitssuche vergleichsweise selten.
Brenke glaubt nicht, dass ab Mai in großem Umfang hochqualifizierte Facharbeiter aus Osteuropa in Deutschland zu erwarten sind. Es sei zwar möglich, dass nun deutsche Arbeitgeber verstärkt auf die Ausbildung junger Menschen aus Osteuropa setzen. „Allerdings kann die fehlende Sprachkompetenz eine Hürde sein“, schränkt Brenke ein. Da Akademiker aus den acht betroffenen osteuropäischen EU-Staaten sich ohnehin bereits seit 2009 ohne Einschränkungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt umschauen können, geht der Experte eher davon aus, dass die bevorstehende Neuregelung vor allem Bewerber mit mittleren Qualifikationen – etwa einer Lehre – anziehen wird. Auch sei zu erwarten, dass es gerade in Bereichen des Arbeitsmarktes mit geringerer Entlohnung „zu einem verstärkten Wettbewerb“ kommen werde.
Verstärkte Konkurrenz befürchten Gewerkschaften auch angesichts der Tatsache, dass es ab Mai keine Beschränkungen für die Entsendung von Arbeitnehmern im Baugewerbe und bei der Gebäudereinigung mehr geben wird. Sprich: Subunternehmen aus Osteuropa könnten trotz der am Bau und in der Gebäudereinigung geltenden Mindestlöhne versuchen, mit ihren Mitarbeitern Sozialdumping zu betreiben.
Mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit bieten sich allerdings auch Arbeitnehmern aus Osteuropa, die bisher schwarz gearbeitet haben, Vorteile: Sie haben die Möglichkeit, ihren Status etwa in der Form eines Minijobs zu legalisieren. Das gilt vor allem für Haushaltshilfen aus den osteuropäischen EU-Beitrittsländern.
Dass die Neuregelung ab Mai am Notstand bei der Altenpflege in Deutschland etwas ändert, glauben Fachleute indes nicht. „Die polnischen Träger brauchen ihre Pfleger selber“, sagt Werner Hesse, Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Und wenn Pflegefachkräfte aus Polen jenseits ihrer Landesgrenzen nach Arbeit suchten, dann gingen sie in der Regel nicht nach Deutschland – sondern nach Luxemburg, in die Schweiz und nach Skandinavien.
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