Erneutes Messer-Attentat in Israel: Ausnahmezustand in Jerusalem
In Jerusalem herrscht Ausnahmezustand, 3500 Sicherheitskräfte bewachen die Altstadt. Trotzdem griff am Mittwoch erneut eine Palästinenserin einen Israeli mit einem Messer an. Dieser schoss mit einer Waffe zurück.
Es war die Ruhe vor dem Sturm. Drei Tage lang versuchten die Menschen in der Jerusalemer Altstadt, zur Normalität zurückzukehren. Am Mittwochmorgen wurde dann erneut ein Israeli mit einem Messer attackiert: Eine 18-jährige Araberin ging laut Polizeiangaben auf einen 35-jährigen Israeli los und verletzte ihn leicht. Der Israeli, der eine Waffe bei sich trug, schoss daraufhin auf die Frau und verletzte sie schwer.
Wieder herrscht Ausnahmezustand an Jerusalems heiligstem Ort, der mittlerweile von 3500 Sicherheitskräften bewacht wird. Doch auch das massive Aufgebot an Polizisten mit Sicherheitswesten, Helmen und Schlagstöcken an jeder Straßenecke vermag den Terror kaum aufzuhalten. Erst am Samstagabend hatten arabischer Attentäter zwei Menschen mit einem Messer getötet und drei verletzt, darunter ein kleines Kind. Daraufhin sperrte die Polizei den Zugang zur Altstadt zwei Tage lang für Palästinenser und damit auch für die arabischen Bewohner Ostjerusalems, die keine israelische Staatsbürgerschaft besitzen.
Ein Händler in der Altstadt sagt: "Alle haben hier Angst"
Doch auch nachdem die Sperre aufgehoben wurde, bleiben die Gassen der Altstadt leer. Keiner weiß, was als Nächstes passiert. Und so hat Jamal Salfity viel Zeit, die Nachrichten auf seinem Smartphone zu verfolgen, während er auf Kundschaft wartet. Am Tag vor dem jüngsten Attentat sitzt er im familieneigenen Souvenirladen in der Haupteinkaufsstraße Beit HaBad im muslimischen Viertel – einige hundert Meter von den Tatorten entfernt. „Es sind schwere Zeiten, alle hier haben Angst“, sagt der 45-Jährige, und rückt eine Krippe aus Olivenholz zurecht. Kaum einer interessiert sich dieser Tage für Kreuze, Kerzen und Schlüsselanhänger. Die Stimmung ist schon seit Wochen angespannt. Auch schon vor den Messerattacken war die Altstadt immer wieder Schauplatz von Auseinandersetzungen. Jugendliche hatten auf dem Tempelberg randaliert, Steine und Molotowcocktails auf Polizisten geworfen.
Auch in Westjerusalem wächst der Hass
Nur wenige Passanten sind nun in den Gassen unterwegs, durch die sich sonst Touristen und Einheimische drücken, vorbei an Gewürz- und Kaffeeläden, an schreienden Händlern und betenden Pilgergruppen. „Auch ich bleibe lieber zu Hause, wenn ich nicht arbeiten muss“, sagt Jamal Salfity. „Ich habe fünf Kinder, mein ältester Sohn ist 18, er studiert. Ich sage ihm immer wieder, er soll nicht in die Nähe irgendwelcher Demonstrationen kommen und nicht nach Westjerusalem fahren. Das ist zu gefährlich.“ Westjerusalem ist die jüdisch-israelische Stadtseite. Auch hier wächst der Hass: So soll ein Mitglied der ultranationalen Organisation Lehava einem Palästinenser Tränengas ins Gesicht gesprüht haben.
Immer lauter werden nun die Stimmen, die von einer dritten Intifada sprechen. Steht man kurz davor? Oder gar mittendrin? Es sind jedenfalls nicht nur die jüdischen Israelis, die Angst vor gewaltbereiten arabischen Jugendlichen haben. Auch die arabischen Einwohner haben ein mulmiges Gefühl, werfen der israelischen Polizei vor, ihre Waffen gegenüber Arabern viel zu schnell zu zücken.
Juden, Muslime und Christen meiden derzeit lieber Orte, die zu Brennpunkten werden könnten. Nur an einem Ort herrscht ungewöhnlich angstfreies Treiben: auf der El-Wad-ha-Gai-Straße, wo am Samstagabend ein arabischer Attentäter zwei Menschen tötete. Dutzende jüdische Bewohner des muslimischen Viertels haben sich hier versammelt, umringt von Sicherheitskräften. Sieben Tage lang werden sie zusammensitzen und trauern. So ist es jüdischer Brauch. Die Trauergäste haben Stühle aufgestellt und Kerzen angezündet. Ein paar Kinder rücken diese zu einem Davidstern zusammen. Über ihren Köpfen wehen Israelflaggen. „Wir haben keine Angst, auch jetzt nicht. Das hier ist unser Zuhause, unsere Stadt“, sagt die 43-jährige Racheli, Mutter von sieben Kindern, die seit 23 Jahren hier wohnt. Racheli trägt ein buntes Kopftuch, einen langen Rock und ein langärmeliges Shirt. Sie ist gläubig, nicht ultraorthodox, sondern nationalreligiös: Sie sieht es als ihren Auftrag, ganz Israel und damit die ganze Jerusalemer Altstadt zu besiedeln – auch wenn das bedeutet, dass ihre Kinder von Sicherheitskräften in die Schule eskortiert werden und ihr Mann nur mit Waffe das Haus verlässt. An diesem Ort zu leben, ist Politik, ist Ideologie. Auch deshalb, so sagen die Menschen hier, haben sie keine Angst.
Auch die Touristen sind besorgt
Die Touristen hingegen sind besorgt. Drei junge Frauen aus Düsseldorf setzen ihren Urlaub zwar fort. Doch sie sind vorsichtig: „Anstatt in Jerusalem wollen wir die Nacht lieber in Tel Aviv verbringen“, sagt die 19-jährige Sophie Neuroth bei einem Besuch in der Altstadt am Dienstag. Die Sorgenanrufe aus der Heimat wollen derzeit nicht abbrechen. „Wir werden schon ganz schön durchatmen, wenn wir am Sonntag im Flieger sitzen.“
Noch sind ausländische Stimmen in der Altstadt zu vernehmen. Doch was, wenn die Gewalt anhält? Der Souvenirhändler Salfity möchte daran nicht denken. Wenn er nicht im Laden steht, arbeitet er als Stadtführer. „Ich habe übermorgen eine Gruppe, die wird sicher nicht absagen. Aber die Gruppen, die sich dann angekündigt haben, ich weiß nicht, was sein wird.“