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Türkische Polizisten bei einem Anti-Terror-Einsatz.
© dpa

Bekämpfung der Gülen-Bewegung: Ausnahmezustand in der Türkei: Kein Ende in Sicht

Der Ausnahmezustand in der Türkei geht in die Verlängerung. Die Notstandsdekrete sollten ursprünglich der Bekämpfung der Gülen-Bewegung dienen. Sie gehen aber längst darüber hinaus.

Als Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan nach der Niederschlagung des Putsches vom 15. Juli den Ausnahmezustand in der Türkei ausrief, kamen von seiner Regierung Beschwichtigungen: Justizminister Bekir Bozdag gab als Ziel vor, den Notstand noch vor den verhängten 90 Tagen wieder aufzuheben. Womöglich reiche ja die Hälfte der Zeit, sagte Vize-Ministerpräsident Numan Kurtulmus. Kritiker zweifelten die Beteuerungen schon damals an, und sie sollten Recht behalten: An diesem Mittwoch geht der Ausnahmezustand für weitere 90 Tage in die Verlängerung. Mindestens.

Die Putschisten wollten Erdogan stürzen - und haben ihm stattdessen beinahe unumschränkte Macht verschafft. Seit Inkrafttreten des Notstands am 21. Juli kann der Staatspräsident per Dekret durchregieren. Ursprünglich sollten die Notstandserlasse dazu dienen, die Bewegung des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen zu bekämpfen, den Erdogan für den Putschversuch verantwortlich macht. Doch die Maßnahmen gehen längst darüber hinaus. Neben der Gülen-Bewegung sind vor allem kurdische Gruppen ins Visier geraten. Von vornherein zielten die Dekrete darauf, nicht nur die Putschisten selber zu treffen - sondern auch Menschen, die wie auch immer geartete Verbindungen zur Gülen-Bewegung haben, mit der Erdogan einst zusammenarbeitete. Ein Konto bei der Bank Asya - die zum Gülen-Imperium gehörte, bis sie unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt wurde - reicht, um unter Verdacht zu geraten.

50 000 angebliche Gülen-Anhänger gefeuert

Selbst die Opposition zweifelt nicht daran, dass Anhänger des Predigers an dem Putschversuch beteiligt waren. Ob Gülen allerdings selber der Drahtzieher war, gehört zu den vielen offenen Fragen, die auch drei Monate nach der blutigen Nacht vom 15. Juli offen sind. Gülen selber dementiert das vehement. Per Dekret wurden mehr als 50 000 angebliche Gülen-Anhänger nicht nur aus dem öffentlichen Dienst gefeuert, mit dem Abdruck ihrer Namen im Amtsanzeiger wurden sie außerdem öffentlich an den Pranger gestellt - ohne Gerichtsurteil.

Ebenfalls per Dekret verfügte Erdogan, dass Verdächtige 30 statt vier Tage in Polizeigewahrsam gesperrt werden dürfen, bis sie einem Haftrichter vorgeführt werden müssen. Fünf Tage lang kann ihnen der Kontakt zu einem Anwalt verwehrt werden. Im Zusammenhang mit dem Putschversuch sitzen inzwischen mehr als 30 000 Verdächtige in Untersuchungshaft. Um Platz in den Gefängnissen zu schaffen, wurden fast 36 000 verurteilte Häftlinge entlassen. Den Besitz von Verdächtigen können Gerichte einfrieren lassen. Ihnen kann zudem der Reisepass gesperrt werden, und nicht nur das: Auch der Pass ihrer Ehepartner kann für ungültig erklärt werden. Die größte Oppositionspartei CHP hält viele der Maßnahmen für verfassungswidrig. Das Problem: Nach der Verfassung ist es ausgeschlossen, gegen die Dekrete vor dem Verfassungsgericht zu klagen.

Schwere Vorwürfe über Folter und Misshandlungen

Vergangene Woche lehnten die Richter genau deswegen Anträge der CHP ab, zwei der Erlasse zu kippen. Der Staatspräsident - der die Dekrete nur nachträglich von seiner AKP-Mehrheit im Parlament abnicken lassen muss - hat damit freie Hand. Der Türkei-Experte von Amnesty International, Andrew Gardner, sagt, ohne Frage sei der Putschversuch „eine ernste Bedrohung der nationalen Sicherheit“ gewesen. Auch im Ausnahmezustand müssten Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit aber gewahrt werden - und daran zweifelt Amnesty. Die Organisation habe nach dem Putschversuch „schwere Vorwürfe über Folter und Misshandlungen“ dokumentiert, sagt Gardner. Erdogan weist Foltervorwürfe als „reine Lüge“ zurück. Gardner kritisiert, mit den Dekreten gehe die Regierung zunehmend auch gegen andere Gruppen als die Gülen-Bewegung vor, die als Begründung für den Notstand herangezogen worden war.

In erster Linie betreffe das kurdische Organisationen, denen Verbindungen zur verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK vorgeworfen würden. Tatsächlich wurden nicht nur mehr als 100 Gülen-nahe Medien geschlossen. In einer zweiten Welle wurden unter Berufung auf die Notstandsdekrete vor allem pro-kurdische Sender abgeschaltet. Sogar der Kindersender Zarok TV, der Zeichentrickserien wie „Biene Maja“ ins Kurdische übersetzte und ausstrahlte, musste schließen. Und nicht nur Lehrer mit angeblichen Gülen-Verbindungen verloren ihren Job. Auch Tausende kurdische Lehrer wurden unter PKK-Verdacht suspendiert. Erdogan versprach bei der Ausrufung des Ausnahmezustands: „Wir werden von der Demokratie keinen Schritt abweichen.“ Oppositionsführer und CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu sagt dagegen, mit der Verlängerung des Notstands wolle der Präsident seine „politische Macht stärken und die Opposition zum Schweigen bringen“.

Wie lange der Notstand am Ende gelten soll, ist völlig ungewiss. „Vielleicht reichen auch zwölf Monate nicht“, sagte Erdogan bei der Ankündigung der Verlängerung. In der vergangenen Woche haben der Präsident und die von ihm gelenkte Regierung einen neuen Anlauf unternommen, um Erdogans größtes Ziel zu verwirklichen: Ein Präsidialsystem mit Erdogan als Staats- und Regierungschef an der Spitze. „Wenn wir uns die Meinungsumfragen ansehen, so verlangt mein Volk das Präsidialsystem“, sagte Erdogan vor wenigen Tagen unter dem frenetischen Jubel seiner Anhänger in Konya. „Und ich sage unseren politischen Parteien im Parlament: Gehört die Herrschaft nicht bedingungslos dem Volk?“ (dpa)

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