Unruhen im Libanon: Aus Wut wird Gewalt
Seit Monaten gehen die Libanesen gegen ihre Regierung auf die Straße. Erreicht haben sie wenig – versinkt das Land jetzt im Chaos?
Gegen 19 Uhr libanesischer Zeit beginnen die Kirchen in Beiruts Zentrum ihre Glocken zu läuten, gleichzeitig meldet sich der Imam des größten islamischen Gotteshauses der Hauptstadt, der Mohammed-Al-Amin Moschee, über die Außenlautsprecher zu Wort. Eine ungewöhnliche, fast gespenstische Szene. Sowohl um die Kirchen als auch um die Moschee toben im selben Augenblick die schwersten Straßenschlachten, die Beirut seit Beginn der Demonstrationen im Oktober 2019 erlebt. Vergeblich versuchen die Gotteshäuser, Demonstrierende und Sicherheitskräfte zur Vernunft zu bringen. In „Downtown“-Beirut, dem Regierungsviertel, herrscht längst Chaos.
Seit drei Monaten gehen die Menschen im Libanon auf die Straße, um gegen Korruption, Misswirtschaft und ihre führende, politische Klasse zu demonstrieren. Der designierte Premierminister und Universitätsprofessor Hassan Diab versucht sich seit mehr als einem Monat an der Bildung eines neuen Kabinetts. Das libanesische System sieht die Postenverteilung nach religiösem Proporz vor. Diese Regelung sollte einst Gerechtigkeit zwischen den vielen verschiedenen Konfessionen im multireligiösen Libanon schaffen, wird heutzutage bei der Bevölkerung aber vor allem als fortschrittshemmend angeprangert. Gleichzeitig befürchten viele Einwohner des Zedernstaates, dass die alten, politischen Gesichter auch die neuen sein werden.
Ihab Hallab ist 23 Jahre alt, kommt aus Libanons zweitgrößter Stadt Tripoli und ist seit Tag Eins der Demonstrationen auf der Straße. Auch er fühlt sich von der Politik nicht mehr ernst genommen. Ihab gehörte lange zu jenen, die sich für einen friedlichen Protest und einen menschlichen Umgang mit Polizei und Armee einsetzten, aber: „Nach 95 Tagen ignoriert uns die Politik nach wie vor, es gibt zum jetzigen Zeitpunkt keine andere Möglichkeit als die Gewalt. Wir müssen ernst genommen werden.“ Der Wirtschaftsstudent, der selbst vier Jahre für das Libanesische Rote Kreuz gearbeitet hat, zeigt sich schockiert über das Ausmaß und die Schwere der Verletzungen von Demonstranten am Samstagabend. „Neben mir hat jemand sein Augenlicht verloren. Diese Person ist jetzt auf einem Auge blind.“ Der 23-Jährige prangert vor allem die Gewalt der Sicherheitskräfte an. Und tatsächlich belegen diverse Aufnahmen, die in den sozialen Netzwerken kursieren, Gewalt seitens der Polizei, teilweise ohne jeglichen erkennbaren Grund.
Einmal mehr rückten dabei die libanesische Bereitschaftspolizei sowie die Parlamentspolizei in den Fokus. Sie waren bereits in der Vergangenheit durch ihre gewalttätigen Einsätze aufgefallen. Beiden Einheiten wird eine Nähe zu Parlamentsparteien nachgesagt. Die Parlamentspolizei ist dem schiitischen Sprecher des Parlaments und Vorsitzenden der Amal-Partei, Nabih Berri, unterstellt. Eine der Hauptfeindbilder der libanesischen Massenbewegung. So waren in der Liveberichterstattung des lokalen Fernsehsenders MTV mehrfach Steine werfende Polizisten zu sehen. Nach Informationen der Samir Kassir Stiftung, einer unabhängigen Organisation, die sich für Pressefreiheit im Libanon einsetzt, wurden unter anderem Kamerateams der Fernsehsender Al Jadeed und LBC von Sicherheitskräften angegriffen und attackiert. Auch sollen erneut die Zelte der Protestbewegung auf dem zentralen Märtyrerplatz durch Angehörige der Bereitschaftspolizei niedergebrannt worden sein.
Offizielle Stellen dementierten später, auf Aufnahmen sind jedoch behelmte Polizisten zu sehen, wie sie eine Flüssigkeit über das Protestcamp gießen. Andere auf Twitter verbreitete Videos zeigen Beamte der Bereitschaftspolizei, wie sie Tränengas-Kanülen gezielt auf Demonstranten schießen. Der Einsatz von Tränengas ist eigentlich ausschließlich bei einem Winkel von 45 Grad und mehr erlaubt, um schwere bis tödliche Verletzungen durch die Kanülen zu verhindern. Im Laufe des Abends kam es schließlich zum vermehrten Einsatz von Gummigeschossen, um die Demonstranten auseinanderzutreiben. Zahlreiche Menschen wurden dabei auch im Gesicht getroffen, das libanesische Rote Kreuz spricht von mehr als 200 Verletzten auf beiden Seiten.
Auch die Sicherheitskräfte beklagten eine erhöhte Gewaltbereitschaft der Protestierenden. So sollen verletzte Beamte noch in Krankenhäusern attackiert worden sein. Beweise für Attacken dieser Art gibt es bisher nicht. Der 23-jährige Ihab gibt offen zu, dass die Demonstranten kein Problem mehr mit Gewalt gegenüber Sicherheitskräften haben: „Was auch immer die Politik uns mit Gewalt genommen hat, werden wir uns auch mit Gewalt wieder zurückholen.“
Am Samstagabend rückte erneut ein Gotteshaus in den Fokus. Stundenlang harrten Hunderte Menschen in der Mohammed-Al-Amin Moschee aus, darunter viele Frauen und Kinder, um sich vor der Polizei und dem Tränengas zu schützen. Gleichzeitig wurden auf dem Gebetsteppich dutzende Verletzte durch Helfer des Roten Kreuzes behandelt. Gegen 21 Uhr begannen die Sicherheitskräfte Tränengas direkt in den Innenraum der Moschee zu schießen. Es kam zu chaotischen Szenen. Nur durch Verhandlungen des Imans mit den Behörden konnten wenig später alle Personen das Gotteshaus sicher und ohne drohende Verhaftungen verlassen.
Julius Geiler
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