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Der inhaftierte Kremlgegner und frühere Öl-Milliardär Michail Chodorkowski.
© dpa

Michail Chodorkowski: Aus dem Straflager nach Berlin

Hans-Dietrich Genscher hat vermittelt - und Michail Chodorkowski ist nach Deutschland ausgereist. Um seine kranke Mutter zu besuchen. Doch die ist gar nicht mehr hier. Was ist da gelaufen?

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Dem Reporter des russischen Staatsfernsehens war die Enttäuschung deutlich anzumerken. Sein Kamerateam hatte sich bei Nacht und Nebel im Wortsinn in die Einöde der Teilrepublik Karelien an der Grenze Finnland aufgemacht, um den historischen Moment ja nicht zu verpassen, wenn sich für den kremlkritischen Oligarchen Michail Chodorkowski nach mehr als zehn Jahren die Tore des Straflagers öffnen. Ewiger Ruhm blieb dem Reporter versagt: „Da“, sagte er nur und zeigte auf einen Hubschrauber, der über dem verschneiten Gelände eine letzte Runde zog und dann Kurs Richtung Süden nahm, „da fliegt er“. Es war gegen 14 Uhr Ortszeit. Zwei Stunden zuvor hatte Präsident Wladimir Putin den Gnadenerlass für Chodorkowski unterzeichnet.

Es war ein Krimi, der in Teilen an die abenteuerliche Flucht des Whistleblowers Edward Snowden erinnerte: Nachdem sich die Nachricht verbreitet hatte, dass der frühere Ölmagnat und Regimekritiker Michail Chodorkowski nach zehnjähriger Haft das Straflager in Karelien verlassen habe, überschlugen sich am Nachmittag die Ereignisse. Chodorkowski sei auf dem Weg nach Deutschland, um seine krebskranke Mutter zu besuchen, die in einer Berliner Klinik liege, hieß es. Ihr schlechter Zustand war nach ersten Berichten auch der Grund für den Gnadenerlass gewesen, den der russische Präsident Wladimir Putin seinem politischen Widersacher Chodorkowski ausgestellt hatte.

Verwirrung um den Aufenthaltsort der Mutter

Zusätzliche Brisanz erhielt die Nachricht von der Reiseroute Chodorkowskis durch die Information, dass kein geringerer als Ex-Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher einen Firmenjet der sauerländischen Firmengruppe Bettermann geordert habe, um den Ölmagnaten und Regimekritiker nach Deutschland zu bringen.

Diese Nachrichtenlage wurde auf den Kopf gestellt, als wenig später die russische Nachrichtenagentur Itar-Tass ein Dementi Maria Chodorkowskajas verbreitetete: Sie sei gar nicht mehr in Berlin, sondern halte sich in Romaschkino bei Moskau auf. Ihr Sohn habe sich bisher nicht bei ihr gemeldet, sagte die 79-Jährige. Und: „Ich weiß nicht, warum sie mitteilen, dass Michail zu mir nach Deutschland geflogen ist.“

Wo, wann und wie Chodorkowski aus dem Helikopter, der ihn im Straflager Segescha abgeholt hatte, in die Maschine nach Deutschland umstieg, war bis Freitagabend unklar. Kritische russische Medien fühlten sich sogleich an eine „Geheimdienstoperation“ erinnert. Als gesichert gilt bisher lediglich, dass Chodorkowski bei der Freilassung ausdrücklich um Dokumente für die Ausreise ins Ausland bat. So jedenfalls erfuhr es die Nachrichtenagentur RIA nowosti bei der Anstaltsleitung.

Ein Flughafenmitarbeiter in Schönefeld sagte dem Tagesspiegel, Chodorkowski sei gegen 15 Uhr am GAT, dem General Aviation Terminal in Schönefeld, an dem Privatflieger starten und landen, angekommen. Chodorkowski habe „extrem fertig“ ausgesehen: „Fast elf Jahre Knast hinterlassen wohl ihre Spuren“, sagte der Mann. Die Abfertigung des Russen sei „sehr schnell gegangen“, das Ganze habe „sehr klammheimlich“ gewirkt. Er sei in einer dunkler Limousine davongefahren, eskortiert von einem vor ihm und einem hinter ihm fahrenden Polizeiwagen.

"Ich denke an diejenigen, die weiter in Haft sitzen"

Nachdem er in Berlin angekommen war, verbreitete Chodorkowski eine Mitteilung, in der er sich zu den Umständen der Begnadigung äußerte. Es habe keine Absprache über eine Schuld als Bedingung für seine Begnadigung gegeben, erklärte er. „Die Frage eines Schuldeingeständnisses hat sich nicht gestellt“, hieß es weiter. „Ich habe mich am 12. November an den Präsidenten gewandt mit der Bitte um Gnade angesichts familiärer Umstände und freue mich über die positive Entscheidung.“ Chodorkowski dankte seinen Unterstützern und vor allem dem früheren Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher. „Ich denke besonders an diejenigen, die weiter in Haft sitzen“, hieß es in der Mitteilung.

Die rasche Ausreise Chodorkowskis war insofern ungewöhnlich, als der Gnadenerlass zwar mit sofortiger Wirkung in Kraft tritt, das Procedere für die Abwicklung aber kompliziert ist und eigentlich mehrere Tage in Anspruch nimmt. Denn die Freilassung des Begnadigten kann erst erfolgen, wenn die regionale Vollzugsbehörde den Präsidentenerlass im Original von der Kremladministration per Kurier bekommen hat. Zustellungen per Fax oder E-Mail hätten keine juristische Wirkung, sagte ein Sprecher der Behörde noch kurz vor Chodorkowskis Entlassung.

Noch Anfang Dezember hatten die Ermittlungsbehörden erklärt, die Chancen für ein neues – drittes – Verfahren wegen Geldwäsche gegen Chodorkowski stünden gut. Chodorkowski habe Teile seines Vermögens ins Ausland verbracht und damit die russische Zivilgesellschaft alimentiert. Wie die Moskauer Tageszeitung „Kommersant“ schreibt, besuchten kurz danach Geheimdienstmitarbeiter Chodorkowski im Straflager. Die Anwälte des Gefangenen seien nicht dabei gewesen. Sie hätten ihm von den neuen Ermittlungen und von der Verschlimmerung des Krebsleidens seiner Mutter erzählt, woraufhin Chodorkowski „umgefallen“ sei und Putin um Milde gebeten habe.

Genscher verbreitete am Abend eine Erklärung, in der er die Entscheidung des russischen Präsidenten zur Freilassung Chodorkowskis begrüßte. Sie sei bedeutsam und ermutigend auch für andere Fälle. Zugleich dankte Genscher Putin dafür, dass dieser ihn auf seine Bitte hin zwei Mal empfangen habe, um über das Schicksal Chodorkowskis zu sprechen. Er habe, so Genscher weiter, bei seinen Bemühungen von der Bundeskanzlerin, dem früheren Außenminister und dem deutschen Botschafter in Moskau „größtmögliche Unterstützung erfahren“. (mit dpa)

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