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Ministerpräsident von Sachsen: Michael Kretschmer (CDU).
© Robert Michael /dpa
Update

„Verlieren Rückhalt der Bürger“: Aufstand der Erzgebirge-Bürgermeister gegen reine Inzidenz-Politik

Corona-Brandbrief an Kretschmer: Ein Lockdown sei nicht mehr zu vermitteln, heißt es in Sachsen. Der Landeschef kontert: „Wir bewegen uns auf sehr dünnem Eis.“

Die dritte Coronavirus-Welle nimmt Fahrt auf, immer mehr Regionen überschreiten den kritischen Inzidenz-Wert von 100. Dass beim nächsten Bund-Länder-Treffen am 22. März mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) weitere Lockerungen beschlossen werden, scheint so gut wie ausgeschlossen.

Bürgermeister des Erzgebirgskreises in Sachsen – schon länger ein Hotspot in der Pandemie und immer wieder Ort von Protesten gegen die Corona-Auflagen – haben sich nun in einem offenen Brief an Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) gewandt. Die Stadtoberhäupter kritisieren darin die Corona-Politik der Landesregierung scharf und insbesondere, dass an bestimmten Inzidenzwerten festgehalten werde, wie der Sender MDR online berichtet.

Demnach heißt es in dem Brief, der im Vorfeld einer für den Mittwoch geplanten Videokonferenz veröffentlich wurde: „Wir haben im Erzgebirgskreis aktuell Kommunen, die eine Größe aufweisen, bei denen ein positiv getesteter Fall in sieben Tagen sofort zu einer Inzidenz von mehr als 100 führt.“ Damit könne man den Bürgern die teilweise erheblichen Einschränkungen nicht erklären, heißt es weiter.

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„Das komplette – undifferenzierte – Herunterfahren ganzer Branchen oder Lebensbereiche über Monate hinweg erweckt mit zunehmender Dauer eher den Eindruck einer Plan- und Hilflosigkeit.“ Die Vergleichbarkeit der Inzidenz-Werte sei nicht möglich, weil sich im Laufe des vergangenen Jahres die Teststrategie mehrfach geändert habe, argumentieren die Bürgermeister. Im Frühjahr 2020 seien nur Menschen mit Symptomen getestet worden, im Herbst dann auch Kontaktpersonen ohne Anzeichen einer Erkrankung. Bei den nun breit angelegten Tests müsse man die zusätzlich ermittelten Fälle in ein angemessenes Verhältnis setzen.

„Corona-Schutzverordnung ist zu komplex“

Albrecht Spindler, parteiloser Bürgermeister der rund 5800 Einwohner zählenden Gemeinde Jahnsdorf, sagte dem MDR. „Die Regelungen der Corona-Schutzverordnung sind zu komplex. Dadurch verlieren wir zunehmend den Rückhalt in der Bevölkerung.“ Es sei immer schwieriger, die Regelungen zu erklären, wenn man sie selbst nicht mehr ganz genau durchdringen könne.

Ingo Seifert (Freie Wähler), Bürgermeister von Schneeberg mit rund 15.000 Bürgern, sagte dem Sender: „Auf der einen Seite sagt man, das Testaufkommen muss erhöht werden.“ Das bringe zwangsläufig mehr positive Testergebnisse. „Auf der anderen Seite hält man an diesen festen Zahlen 100, 50 und 35 fest. Das passt nicht mehr aufeinander.“ Damit bewege man sich auf einen Jo-Jo-Effekt zu, bei dem Schulen und Geschäfte zwischen Öffnung und Schließung pendelten. „Das löst großen Unmut in der Bevölkerung aus.“

Notbremse gilt bei Inzidenz von über 100

Die acht unterzeichnenden Bürgermeister hätten stellvertretend für alle Bürgermeister des Landkreises unterschrieben, sagte Seifert: „Wir denken, es ist an der Zeit zu zeigen, wie bedenklich die Stimmung in der Bevölkerung ist.“

Angesichts deutlich steigender Neuinfektionen hatte die Bundesregierung die Länder eindringlich dazu aufgefordert, die beschlossene „Corona-Notbremse“ einzuhalten und die staatlichen Beschränkungen notfalls wieder zu verschärfen. Der Bund-Länder-Beschluss vom 3. März müsse umgesetzt werden, „nicht nur in seinen erfreulichen Passagen, sondern eben auch in seinen schwierigen“, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Montag in Berlin.

Hohe Inzidenz im Erzgebirge

Dies würde etwa bedeuten, den Einzelhandel und Friseure wieder zu schließen, wenn es mehr als 100 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen gibt. Wie Thüringen und Sachsen-Anhalt zählte Sachsen am Mittwoch mit einer Inzidenz von 110 zu den drei Bundesländern, die den Grenzwert bereits überschreiten. Daten zufolge, die der Tagesspiegel zusammenträgt, liegt die Sieben-Tage-Inzidenz im Erzgebirgskreis bei 162.

Sachsen mit seinen rund 4,1 Millionen Bürgern verzeichnet demnach seit Beginn der Pandemie pro 100.000 Einwohner mit 202 bundesweit am meisten Covid-19-Tote. An zweiter Stelle folgt Thüringen mit 148. Insgesamt verstarben in Sachsen bisher 8228 Menschen an den Folgen einer Coronavirus-Infektion. Rund 204.350 Menschen wurden positiv getestet.

Kretschmer: Lockerungsversuch gescheitert

Kretschmer ließ die Kritik der Bürgermeister so nicht stehen. Der erste Lockerungsversuch von Bund und Ländern vor zwei Wochen sei seiner Ansicht nach gescheitert. „Es funktioniert nicht“, sagte er am Mittwochvormittag in der Videokonferenz mit rund 50 Kommunalpolitikern aus dem Erzgebirge, wie der MDR berichtet. Er verwies auf steigende Infektionszahlen und dass seit Wochen verstärkt Patienten jüngeren Alters in den Kliniken behandelt werden müssten. „Wenn wir nichts tun, werden wir wieder höhere Zahlen haben“, sagte er.

Es gebe keinen klaren Wegweiser durch die Pandemie. Wegen der Verbreitung der britischen Virusmutation erlebe Sachsen ähnliches wie Portugal, Polen und die Tschechische Republik. Schon kleine Veränderungen im Verhalten der Bevölkerung würden sofort für Veränderungen im Infektionsgeschehen sorgen, sagte er.

„Wir müssen nicht in Panik verfallen“

In der Diskussion mit 50 Bürgermeistern aus dem Erzgebirge sagte Kretschmer, er verstehe den Wunsch nach mehr Normalität auf der einen Seite, aber Lockerungen auf der anderen Seite seien möglicherweise falsch. Sachsen hält nach Angaben des Sozialministeriums 1.300 Krankenhausbetten für Covid-19-Patienten bereit. Derzeit sind davon 1.026 belegt (Stand: 16. März).

Wenn alle 1.300 Betten voll seien, müsse Sachsen hart einschreiten, so Kretschmer. Aber: „Wir müssen nicht in Panik verfallen, wir haben durchaus etwas Zeit, Dinge vorzubereiten. Man muss sich nur der Situation klar stellen.“

Kretschmer bittet Bürgermeister um Hilfe

Von Seitwärtsbewegungen der Infektionszahlen im Erzgebirge könne jedenfalls keine Rede sein. Kretschmer warb für einen gemeinsamen Einsatz für Tests und den Ausbau von Testzentren. Und er bat die Bürgermeister des Landkreises darum, politische Entscheidungen zur Pandemiebekämpfung weiter mitzutragen.

Kretschmer sagte: „Es ist sehr dünnes Eis, auf dem wir uns bewegen und wir können bei jedem Schritt einbrechen. Es ist nur deswegen noch nicht zum Ertrinken gekommen, weil wir noch nahe genug am Rand sind. Aber wir werden den Teich nicht durchschreiten können.“

Kretschmer: Wieder mehr auf Wissenschaft hören

Am Dienstagabend hatte Kretschmann bereits dafür plädiert, wieder stärker auf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu hören. Politische Entscheidungen beeindruckten das Virus wenig. „Wir müssen möglichst schnell wieder auf einen wissenschaftlichen Weg kommen“, sagte Kretschmer einem Bericht der Nachrichtenagentur epd zufolge bei einer Onlineveranstaltung zur psychischen Gesundheit in der Pandemie.

Auf psychischer Ebene sehe er das Problem, dass die Bevölkerung eine Ohnmacht empfinde, dass staatliche Maßnahmen stattfinden. Was ihn aber auch umtreibe sei, dass Deutschland nach dieser Krise immer noch so stark sein müsse, dass es im internationalen Wettbewerb mithalten kann. „Nach der Krise müssen wir das Erlebte aufarbeiten“, sagte Kretschmer.

„Die Vorwürfe sind gigantisch“

Die Corona sei auch für Politikerinnen und Politiker eine sehr herausfordernde Zeit. „Die Vorwürfe sind gigantisch, zum Teil drastisch in der Wortwahl“, sagte der CDU-Politiker. Er sei froh, dass Entscheidungen im Team fallen und dass sich die Politik auf wissenschaftliche Erkenntnisse stützen kann, sagte er zu seiner eigenen psychischen Belastung.

Die Proteste in Annaberg-Buchholz Mitte November machten bundesweit Schlagzeilen.
Die Proteste in Annaberg-Buchholz Mitte November machten bundesweit Schlagzeilen.
© Imago Images/Bernd März

Kretschmer, der im Freistaat seit Ende 2019 mit einer sogenannten Kenia-Koalition zusammen mit Grünen und SPD regiert, hat in der Pandemie bei den Sachsen enorm an Zustimmung verloren. Einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey für die „Sächsische Zeitung“ zeigt, dass aktuell nur noch 36,6 Prozent der Menschen im Freistaat mit seiner Arbeit zufrieden sind, unzufrieden sind inzwischen 47,1 Prozent. Vor einem Jahr sah dies noch anders aus: Damals äußerten sich 46,4 Prozent der Befragten zufrieden und 28,9 Prozent unzufrieden.

Dies bleibt auch nicht ohne Folge für die Werte der Landes-CDU. Sie sackte nach einem Hoch Mitte Juni 2020, als sie auf 41,5 Prozent kam, auf jetzt 31,2 Prozent ab. Besonders dramatisch war dabei der Absturz in den Wochen seit Anfang Februar.

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Um zumindest die Übertragung von Virusvarianten aus Nachbarländern zu verringern, hatte Sachsen wie Bayern und das Saarland angekündigt, verstärkt die Bevölkerung in den Grenzregionen „durchimpfen“ zu wollen. Kretschmer hatte angekündigt, dass die Landesregierung von der EU für das grenznahe Vogtland zusätzliche Impfdosen erhalten werde. „Wir brauchen eine Brandmauer.“ In Tschechien hat sich die Virus-Mutante B.1.1.7 sehr stark ausgebreitet und die Inzidenz nach oben getrieben. Der Vogtlandkreis hat den Tagesspiegel-Daten zufolge mit 374 nach dem thüringischen Greiz (537) bundesweit die zweithöchste Sieben-Tage-Inzidenz.

Nach den offenen Fragen beim Astrazeneca-Impfstoff stoppte nun auch Sachsen am Montag ab sofort alle Impftermine mit dem Vakzin. „Ich setze auf eine zügige Klärung. Natürlich wirft diese Entwicklung unsere Impfpläne gehörig zurück“, sagte Gesundheitsministerin Petra Köpping (SPD). Da auch Biontech derzeit nicht für Erstimpfungen zur Verfügung steht, sind nach Angaben des Roten Kreuz alle Erstimpftermine in den Impfzentren bis auf weiteres gestrichen.

Sachsen offen für russischen Impfstoff

Damit gehen auch die Corona-Impfungen bei 39 ausgewählten Hausärzten, die in Sachsen am Montag als Pilotprojekt zunächst begonnen hatten, nicht weiter. Die ausgewählten Modell-Praxen sollen als Außenstellen eines Impfzentrums fungieren. Der flächendeckende Impfstart bei Hausärzten ist bisher bundesweit für Mitte April geplant. Weil es sich um ein Pilotprojekt handelt, kann Sachsen früher beginnen.

Hoffnung setzt die Gesundheitsministerin in den russischen Impfstoff Sputnik V, für den inzwischen ein Antrag auf Zulassung bei der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA gestellt worden ist. „Wir stehen dem offen gegenüber. Natürlich muss er wie alle Impfstoffe geprüft sein, und wenn er zugelassen wird, dann werden wir auch diesen Impfstoff hier gerne verimpfen“, sagte Köpping nach Angaben der „Sächsischen Zeitung“.

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