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Bundespräsident Joachim Gauck am Freitag in der Frauenkirche in Dresden.
© dpa

Die Rede von Bundespräsident Joachim Gauck in Dresden: "Auch 70 Jahre später spüren wir die Folgen des Alptraums"

Zum Gedenken an die Bombardierung Dresdens vor 70 Jahren hat Bundespräsident Joachim Gauck in der Frauenkirche eine Rede gehalten. Der Tagesspiegel dokumentiert die Rede im Wortlaut.

"Dienstag, der 13. Februar 1945, ist der Tag, der sich eingebrannt hat in das Gedächtnis eines jeden Dresdeners, der die folgende Nacht überleben konnte. Es war ein wintertrüber, kurzer Faschingsdienstag. Kinder trugen bunte Hütchen und Pappnasen. Viele Dresdener suchten die Normalität und wollten sich ablenken vom Alltag dieses ewigen Krieges, vom Elend der Flüchtlinge in der Stadt und von den Berichten über die herannahende Front.

Fünf Jahre lang hatten die alliierten Bomber die Stadt weitgehend ausgespart. Doch an diesem Abend, so hielt der Romanist Victor Klemperer fest, „brach die Katastrophe über Dresden herein“. Er schrieb: „Die Bomben fielen, die Häuser stürzten, […] die brennenden Balken krachten auf arische und nichtarische Köpfe, und derselbe Feuersturm riss Jud und Christ in den Tod; wen aber von den etwa 70 Sternträgern diese Nacht verschonte, dem bedeutete sie Errettung, denn im allgemeinen Chaos konnte er der Gestapo entkommen“ – so wie auch Victor Klemperer, der als Ehemann einer sogenannten „Arierin“ noch nicht deportiert worden war. Er überstand die Luftangriffe mit leichten Verletzungen und entzog sich der Verhaftung durch Flucht aus der Stadt.

Aber die barocke Pracht des „Elbflorenz“ lag in Trümmern und Tausende verloren ihr Leben. Bomben und Feuer vernichteten sie unterschiedslos: Schuldige und Unschuldige, Parteimitglieder und Kleinkinder, Kriegsverbrecher und Ordensschwestern, Aufseher und Zwangsarbeiter, kämpfende Soldaten und Flüchtlinge, die, um ihr Leben zu retten, ihre Heimat verlassen und sich nun in Sicherheit geglaubt hatten.

Erich Kästner, der große Sohn der Stadt, fand sich noch zwei Jahre später in einer Trümmerwüste wieder: „Das, was man früher unter Dresden verstand, existiert nicht mehr. Man geht hindurch, als liefe man im Traum durch Sodom und Gomorrha. […] Fünfzehn Quadratkilometer Stadt sind abgemäht und weggeweht.“

Bundespräsident Joachim Gauck am Freitag in der Frauenkirche in Dresden.
Bundespräsident Joachim Gauck am Freitag in der Frauenkirche in Dresden.
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Auch 70 Jahre später spüren wir die Folgen des Alptraums. Zeitzeugen, die das Inferno miterlebt haben, tragen bis heute Erinnerungen in sich an Orte und an Menschen, die sie nie wiedersahen. Bei vielen hat die Zerstörung langanhaltende Verstörung bewirkt. Manchmal übertrug sie sich noch auf Kinder und Enkel. Für die Stadt wurde die Bombennacht zur tiefen Zäsur, zum Bezugspunkt einer Auseinandersetzung um Selbstverständnis und Identität. Deshalb versammeln wir uns heute, an diesem Jahrestag: Wir trauern mit allen, die seither Leid tragen. Wir gedenken all derer, die in jener Zeit als Opfer von Gewalt und Krieg ums Leben kamen, nicht nur in Dresden, sondern auch an anderen Orten.

Viele Städte haben im Krieg schreckliche Bombardements erlitten. Städte, die von Deutschen angegriffen wurden: das polnische Wieluń, Rotterdam, Belgrad, London, Leningrad oder Coventry. Auch Städte, über denen alliierte Piloten ihre Bomben abwarfen: Kassel, Darmstadt, Essen, Lübeck, Berlin, Würzburg, Swinemünde oder Pforzheim. Doch es sind Hamburg und vor allem Dresden, die zum Symbol für die Leiden der deutschen Zivilbevölkerung im Bombenkrieg wurden – wegen der Zahl der Opfer und wegen der ungeheuren Feuersbrünste.

Brandbomben, die den Sprengbomben folgten, entfachten Feuerstürme, die Innenstädte und Keller in Todesfallen verwandelten. In diesem Umfang und mit dieser Zerstörungskraft waren Bombardierungen reiner Wohnviertel bis dahin unbekannt. Ob eine derartige Kriegsführung militärisch sinnvoll, völkerrechtlich zulässig und moralisch vertretbar war, wurde bereits während des Krieges – auch in England und unter den Alliierten – intensiv und kontrovers debattiert. Und bis heute wird immer wieder rechtlich und moralisch über die Grenzfrage gestritten, ob illegitime Mittel überhaupt jemals eingesetzt werden dürfen, um Unrecht zu beseitigen.

Was Dresden darüber hinaus zu etwas Besonderem macht, ist dies: Nirgends wurde Leid so stark politisch instrumentalisiert wie hier. Die Verfälschung der Geschichte begann schon unter nationalsozialistischer Herrschaft, setzte sich fort in Zeiten der DDR und wird selbst heute noch von einigen Unverbesserlichen weitergeführt.

Bundespräsident Joachim Gauck am Freitag in der Frauenkirche in Dresden.
Bundespräsident Joachim Gauck am Freitag in der Frauenkirche in Dresden.
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Vor wenigen Jahren hat eine unabhängige Historikerkommission nach sorgfältigen Recherchen die Zahl der Toten vom 13./14. Februar 1945 ermittelt: Es sind bis zu 25.000. Dennoch werden von einigen weiter höhere Opferzahlen behauptet, um alliierte Angriffe gegen nationalsozialistische Menschheitsverbrechen aufzurechnen, deutsche Schuld also zu relativieren. Und von anderer Seite wird das Flächenbombardement trotz des ungeheuren menschlichen Leids als gerechte Bestrafung gebilligt, also eine Kollektivschuld unterstellt und deutsche Leiderfahrung gänzlich ausgeklammert.

Ich weiß: Seit wir uns in Deutschland über das Ausmaß der deutschen Schuld klar geworden sind, fällt es vielen schwer, auch das Leid deutscher Opfer zu sehen. Ich weiß aber auch: Ein Land, das für eine Ungeheuerlichkeit wie den Völkermord steht, konnte nicht damit rechnen, ungestraft und unbeschädigt aus einem Krieg hervorzugehen, den es selbst vom Zaun gebrochen hatte.

Ich will heute dankbar daran erinnern, dass Bürgerinnen und Bürger Dresdens es mindestens zweimal geschafft haben, sich der Instrumentalisierung des Gedenkens zu entziehen. Mit Kerzen in der Hand widersetzten sich in den 1980er Jahren kleine Gruppen mutiger Menschen dem Versuch, das Gedenken staatsoffiziell in antiwestliche Demonstrationen münden zu lassen. Und heute wehren sich Zehntausende Dresdener mit dem Symbol der weißen Rose gegen ein Gedenken, das, mal von rechts und mal von links außen, im Geiste eines übersteigerten oder umgekehrt eines negativen Nationalismus missbraucht werden soll.

Die weiße Rose erinnert nicht nur an die Münchner Widerstandsgruppe gegen die Nationalsozialisten. Weiße Rosen waren es auch, die – gemalt auf zwei Porzellanteller – die Bombenangriffe des 13. Februar unbeschadet überstanden. Einen der Teller, die eine Dresdenerin nach der Feuersbrunst fand, hat sie verschenkt an Überlebende aus Guernica, jener spanischen Stadt, die 1937 von der deutschen Luftwaffe zerstört wurde. Und ihre Bitte um Verzeihung, ihr Zeichen der Verbundenheit im Leid, ihr Wunsch nach Aussöhnung wurde verstanden und angenommen.

Wir wollen es noch einmal bekräftigen: Wir wissen, wer den mörderischen Krieg begonnen hat. Und deshalb wollen und werden wir niemals die Opfer deutscher Kriegsführung vergessen, wenn wir hier und heute der deutschen Opfer gedenken.

Das Gedenken verbindet uns nicht nur mit den Toten, das Gedenken verbindet uns Gedenkende auch miteinander. Denn wir wollen auf die Vergangenheit schauen, um Antworten zu finden auf Fragen der Gegenwart und Zukunft. Was geschehen ist, soll nicht folgenlos bleiben. Und so suchen wir im Vergangenen nach Orientierung: nach Lehren, nach Vorbildern und nach Methoden, um in Zukunft Gutes gezielt zu fördern und Böses gezielt zu verhindern. So entscheiden wir, welchen Geschehnissen in der Vergangenheit wir unsere besondere Aufmerksamkeit schenken und für welche Aspekte wir besonderes Interesse entwickeln.

Allerdings erinnern sich Menschen höchst unterschiedlich, und Erinnerung führt keineswegs automatisch zu gutem und richtigem Handeln. Erinnerung kann eine produktive Kraft für eine Gesellschaft sein. Aber an vielen Orten der Welt sehen wir auch heute wieder, wie eine selektive, quasi gezinkte Erinnerung dazu dient, destruktive, revanchistische oder nationalistische Ziele durchzusetzen. Auch im eigenen Land werden wir fortwährend darüber sprechen, manchmal auch darüber streiten müssen, was wir wie erinnern.

So ist es keineswegs selbstverständlich, dass wir heute hier in der Frauenkirche mit Vertretern der einstigen Kriegsgegner zusammenkommen. Wir kennen aus der Geschichte ganz andere Reaktionen auf Zerstörungen, auf Gebietsverluste, auf Niederlagen. Deutschland, das sich nach dem Ersten Weltkrieg durch den Versailler Vertrag gedemütigt sah, sann auf Revanche. Ähnlich reagierten seither verschiedene Staaten, noch in jüngster Zeit auf dem Balkan. Wenn Wunden offen gehalten werden, kann Feindschaft nicht vergehen. Wenn das Ressentiment kultiviert wird, wächst der Wunsch nach Rache und Vergeltung. Ein Erinnern, das ausschließlich auf die Schuld der Anderen verweist, bringt Völker gegeneinander auf, statt sie im friedlichen Dialog einander anzunähern. Manipulierung und Instrumentalisierung des Erinnerns erleben wir gerade in jüngster Zeit in beängstigender Wucht.

Es ist noch nicht lange her, da dachten auch Politiker und Militärs in Deutschland: „If right or wrong – my country!“ Die unbedingte Loyalität dem Vaterland gegenüber war wichtiger als die Frage nach dem guten oder dem verwerflichen Tun eben dieses Vaterlandes. Bitter mussten es die Widerständler vom 20. Juli erfahren: Der Tyrannenmord galt als Vaterlandsverrat. Ich hingegen halte es mit Carl Schurz, dem Lehrersohn aus dem rheinländischen Liblar, der später hohen Respekt erfuhr als unabhängiger amerikanischer Politiker. Seine Devise lautete: „My country, right or wrong; if right, to be kept right; and if wrong, to be set right.”

Unser Erinnern, heute und seit Jahren, richtet sich nicht mehr an einer Norm aus, für die die Verteidigung der Ehre des Vaterlandes Priorität hat. Wir sind nicht mehr bereit, Verfehlungen und Verbrechen zu verleugnen oder zu entschuldigen, die im Namen unserer Nation begangen wurden. Die meisten von uns haben sich auch von jenem Selbstbild als Opfer verabschiedet, in dem sich viele in der Nachkriegszeit eingerichtet hatten, als sie das Selbstmitleid pflegten und sich gegen das Leid der Opfer von Deutschen abschotteten. Inzwischen wissen wir nämlich: Wer bereit ist, die Fixierung auf das eigene Schicksal zu überwinden, erfährt auch einen Akt der Selbstbefreiung. Er lernt, sich in größerem, historischem Kontext neu zu sehen und wird empfänglich für das Schicksal des Anderen.

Zwar erleben wir manchmal immer noch Konkurrenz zwischen verschiedenen Opfergruppen. Doch zunehmend gelingt es, das Erinnern am Humanum auszurichten, an der Wahrung und Verteidigung dessen, was den Menschen zum Menschen macht: an seiner Würde und seiner Fähigkeit zum Mitgefühl.

Eine Frucht dieses Denkens ist dann Verständigung über nationale Grenzen hinweg. Und so freuen wir uns, heute hier in der Frauenkirche auch Gäste aus Großbritannien und aus Polen, aus Russland und aus den verschiedensten Weltgegenden begrüßen zu können. Kein bleibender Groll hat sich in ihren Herzen eingenistet, und auch nicht in unseren. Vielmehr fühlen wir uns vereint in einem Gedenken, das getragen ist von unserer Hinwendung zu den Opfern und der Anerkennung ihres Leidens. In dem auch eine tiefe Empathie zum Ausdruck kommt, die uns Anteil nehmen lässt an dem, was Menschen als Folge des Krieges geschehen ist – sei es in London oder Warschau, in Leningrad, Dresden oder Breslau. Wir vergessen nicht – und stellen miteinander das Schicksal aller Opfer in die Mitte unseres Denkens und Fühlens.

Einst war die Ruine der Frauenkirche ein Mahnmal gegen den Krieg. Heute ist die wieder aufgebaute Kirche ein Symbol für Frieden und Versöhnung.

Vor 25 Jahren ging von Dresden der Ruf nach Unterstützung für den Wiederaufbau der Frauenkirche aus, und es reagierten auch die Kriegsgegner von einst. Vor 20 Jahren sagte der Herzog von Kent als Vertreter der britischen Krone Dresden ein neues Turmkreuz zu. Vor 10 Jahren überreichten Abgesandte aus Coventry der Gemeinde der Frauenkirche ein Nagelkreuz, angefertigt aus drei großen Zimmermannsnägeln. Sie stammten aus dem Dachstuhl der von deutschen Bomben zerstörten Kathedrale – ein Symbol der Versöhnung.

Heute ist die Frauenkirche ein „Lernort des Friedens“. Das Geld für den Aufbau wurde in Nah und Fern gesammelt: Zwei Drittel der Summe kamen aus privater Hand und allen Gegenden der Welt. Welch ein großes Zeichen für eine Nationen übergreifende Solidarität! Welch ein Erfolg der Versöhnungsliturgie von Coventry, die da lautet: „Seid untereinander freundlich, herzlich und vergebt einer dem andern, wie auch Gott euch vergeben hat in Christus.“

Ja, wir haben es gelernt und erfahren: Der Mensch ist ein Wesen, das trotz vielfältigen Scheiterns, trotz zerstörerischer Potentiale aus aufrichtiger und respektvoller Erinnerung heraus zu Großem fähig ist: zu menschlichem Miteinander, zur Verständigung und zum Frieden."

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