Flüchtlinge in Deutschland: Ärztekammer lehnt generelle Alterstests für Asylbewerber ab
Der tödliche Messerangriff von Kandel löst Streit über die Überprüfung von Flüchtlingen aus. Ärztepräsident Montgomery warnt vor Eingriffen in die "körperliche Unversehrtheit".
Die Bundesärztekammer wehrt sich gegen Forderungen aus der Union, junge Flüchtlinge künftig umfassend medizinischen Alterstests zu unterziehen. Die dafür nötigen Röntgenuntersuchungen seien ein „Eingriff in die körperliche Unversehrtheit“ und nur dann zu rechtfertigen, wenn sie medizinisch indiziert oder strafrechtlich geboten seien, sagte Ärztepräsident Frank Ulrich Montgomery dem Tagesspiegel. „In allen anderen Fällen sollte man darauf verzichten.“
Anlass für die Debatte ist der tödliche Messerattacke auf eine 15-Jährige im pfälzischen Kandel. Tatverdächtig ist ein afghanischer Flüchtling, an dessen Altersangabe von ebenfalls 15 Jahren Zweifel bestehen. Bei einem Mordfall vor einem Jahr in Freiburg hatte sich der mutmaßliche Täter aus Afghanistan ebenfalls als minderjährig ausgegeben, obwohl er aus Gutachtersicht zwischen 22 und 29 Jahre und seinem Vater zufolge sogar 33 Jahre alt ist.
CSU will Alterstests für alle angeblich Minderjährigen
Nach Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) erklärte am Dienstag auch die saarländische Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) es als das „gute Recht des deutschen Staates“, durch Tests klären zu lassen, ob die Altersangaben vermeintlich minderjähriger Migranten medizinisch nachvollziehbar seien. Im ZDF verwies sie auf positive Erfahrungen mit solchen ärztlichen Untersuchungen in ihrem Bundesland. Bei 35 Prozent dieser Fälle sei festgestellt worden, dass es sich um Volljährige und nicht um Jugendliche handele.
Die CSU-Bundestagsabgeordneten wollen bei ihrer am Donnerstag beginnenden Klausurtagung die Forderung beschließen, bei allen angeblich minderjährigen Flüchtlingen das Alter festzustellen.
Montgomery warnt vor Populismus
Bei Strafrechtsprozessen seien solche Tests nicht zu beanstanden, sagte Montgomery. Man dürfe die Tat von Kandel aber nicht zum Anlass nehmen, um sie nun für alle minderjährigen Flüchtlinge zu fordern. „Man sollte die Kirche im Dorf lassen und sich nicht dem Vorwurf aussetzen, man missbrauche eine Beziehungstat, um populistische Forderungen durchzubringen“, so der Ärztepräsident. Er sehe auch nicht, „dass eine obligatorische Altersfeststellung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in irgendeiner Weise unsere Asylproblematik löst.“
Aus medizinischer Sicht seien junge Menschen mit ihrem noch in Entwicklung befindlichen Zellaufbau vor Röntgenstrahlen tunlichst zu schützen, sagt Montgomery, der selber als Radiologe arbeitet. Die UN-Kinderkonvention verlange zudem einen höchst sensiblen Umgang mit minderjährigen Flüchtlingen, die oft traumatischen Erfahrungen ausgesetzt gewesen seien.
Hinzu komme der nötige Respekt vor anderen Kulturen. Untersuchungen zur Ausbildung der Genitalien bei Heranwachsenden zur Altersbestimmung etwa seien unter diesem Gesichtspunkt ebenfalls problematisch. Und das Alter der Untersuchten lasse sich auch durch aufwändige bildgebende Verfahren niemals auf den Tag genau bestimmen.
Experte für Altersdiagnostik widerspricht
Darum gehe es gar nicht, kontert der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft für Forensische Altersdiagnostik, Andreas Schmeling. Wichtig sei nur der Nachweis, ob es sich bei dem Untersuchten zweifelsfrei um einen Volljährigen handle. Dafür gehe man dann auch das Risiko ein, knapp Volljährige eventuell fälschlich noch als minderjährig zu klassifizieren.
Der Professor aus Münster kann Montgomerys Bedenken „überhaupt nicht nachvollziehen“, wie er dem Tagesspiegel sagte. Im Zweifelsfall seien die Jugendämter schließlich auch hierzulande verpflichtet, eine medizinische Altersbestimmung von angeblich minderjährigen Flüchtlingen anzuordnen. Und verlässlich seien diese nur, wenn man das gesamte Methodenspektrum ausschöpfe – von der körperlichen Untersuchung auf eventuelle Entwicklungsstörungen über das Röntgen von Handgelenk und Gebiss bis zur Computertomografie des Schlüsselbeins.
Schmeling hat den mutmaßlichen Mörder in Freiburg begutachtet. Eine obligatorische Altersfeststellung aller unbegleiteten Migranten, die sich als minderjährig ausgeben, lehnt jedoch auch er ab.
Im Zweifel müssen Jugendämter schon jetzt Alter bestimmen lassen
Tatsächlich ist bei minderjährigen Flüchtlingen im Zweifel eine medizinische Altersbestimmung via Sozialgesetzbuch rechtlich vorgeschrieben. „Auf Antrag des Betroffenen oder seines Vertreters oder von Amts wegen hat das Jugendamt in Zweifelsfällen eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung zu veranlassen“, heißt es darin (SGB VIII, Paragraf 42 f). Dies werde bisher nur, sagt Schmeling, sehr selten veranlasst.
Kein Wunder bei Kosten von rund 1500 Euro pro Test – die sich allerdings angesichts des Unterbringungsaufwands für minderjährige Flüchtlinge sehr schnell relativieren.
Um Gesundheitsgefahren zu begrenzen, empfiehlt Montgomery den Behörden, angeblich minderjährige Flüchtlinge in dubio zu Jugendlichen und nur in erheblichen Zweifelsfällen zu Erwachsenen zu erklären. Gegen letzteres könnten Betroffene dann Rechtsmittel einlegen und ihrerseits eine medizinische Altersfeststellung beantragen. Für diesen Fall müssten sie dann aber auch umfassend über Risiken aufgeklärt sein.
Grünen-Politiker Boris Palmer empfiehlt Umkehr der Beweislast
Der Grünen-Politiker Boris Palmer brachte noch eine andere Variante ins Gespräch: Er empfiehlt eine Umkehr der Beweislast. Wer nicht nachweisen könne oder durch eine Untersuchung belegen wolle, dass er unter 18 sei, solle als Erwachsener behandelt werden, schrieb der Tübinger Oberbürgermeister auf Facebook.
Die Bedenken des Ärztepräsidenten erklärte Palmer "angesichts der erheblichen Kosten und offenkundigen Gefahren, die von dieser Gruppe junger Männer ausgeht" als naiv. "Ein Flug von Afghanistan nach Deutschland hat eine ähnlich relevante Strahlenbelastung zur Folge wie eine Röntgenuntersuchung der Hand", schreibt der umstrittene Grünen-Politiker. "Das ist zumutbar, wenn man schon den Pass nicht vorlegen kann." Und ohnehin scheine es ihm "ein Irrtum zu sein, höchste Empfindlichkeitsstandards unserer Gesellschaft auf Menschen zu übertragen, die in ihrem ganzen Leben nie von solcher Fürsorge gehört haben".