Vorwurf von Gesundheitsexperten: AOK riskiert Lieferengpass bei Grippe-Impfstoff
Die AOK Nordost drückt den Preis für Grippeimpfstoffe - und nimmt dadurch Lieferengpässe in Kauf. Leidtragende könnten Hunderttausende von Versicherten sein.
Gesundheitsexperten werfen der AOK vor, für ihre 1,8 Millionen Versicherten in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern Lieferengpässe bei Grippeimpfstoffen in Kauf zu nehmen. Der Grund: Die AOK Nordost hat mit den Apothekern der Region für die nächste Saison einen derart niedrigen Festpreis vereinbart, dass zur Lieferung der Impfstoffe nach aktuellem Stand nur ein einziger Hersteller in Frage kommt.
De facto unterlaufe die AOK damit eine gesetzliche Vorgabe, heißt es bei der Konkurrenz. Aus Sorge um die Liefer- und Versorgungssicherheit ist es Krankenversicherern nämlich verwehrt, mit Impfstoff- Herstellern exklusive Rabattverträge abzuschließen. Geregelt ist das im Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz, das seit Mai vergangenen Jahres in Kraft ist.
Für die kommende Saison kommt nur ein Hersteller in Frage
Nichtsdestotrotz hat die AOK Nordost mit den Apothekerverbänden der drei Gebiete einen Festpreis für Grippe-Vierfachimpfstoff von 10,95 Euro vereinbart. Dafür, so heißt es in der Branche, lasse sich für Apotheker derzeit keiner der aktuell verfügbaren Impfstoffe „auskömmlich“ beschaffen – und für die kommende Saison komme auch nur ein einziger Hersteller infrage. Nach Tagesspiegel-Recherchen handelt es sich dabei um das niederländische Unternehmen Mylan. Die großen und ebenfalls auf Grippeimpfstoff spezialisierten Pharmafirmen Sanofi und GlaxoSmithKline blieben außen vor.
Das Problem dabei ist jedoch nicht nur eines für die Unterbotenen. Der Anbieter hat gemäß den Vertragsbedingungen die Lieferung der vereinbarten Mengen, also aller bis Mitte März verordneten Grippeimpfstoffe, zu garantieren. Kommt es zu Produktionsausfällen oder kurzfristig zu einer deutlich höheren Nachfrage, wird es schwierig. Denn aufgrund des komplexen Herstellungsprozesses mit sehr langer Vorlaufzeit – die Produktion von Grippeimpfstoffen dauert fünf bis sechs Monate – könnten andere Hersteller kurzfristig kaum einspringen.
Ärztepräsident: Womöglich haben wir dann gar keinen Impfstoff
Diese Gefahr sieht auch die Berliner Ärztekammer. Die AOK gehe hier „ganz klar ins Risiko“, sagte Präsident Günther Jonitz dem Tagesspiegel. „Lassen Sie mal in der Firma dieses einen Herstellers ein größeres Problem auftauchen, dann haben wir womöglich gar keinen Impfstoff.“
Der Bremer Pharmaexperte Gerd Glaeske kritisierte die Krankenkasse ebenfalls. Es handle sich um „keine gut überlegte Vertragsgestaltung“ sagte er dieser Zeitung. „Die Kassen sollten doch aus dem Lieferdesaster von vor drei Jahren gelernt haben, dass Verträge mit nur einem Hersteller anfällig sind für Lieferprobleme.“ Gerade bei Impfungen sollte das Risiko für Lieferprobleme minimiert werden, damit die Impfstoffe zur richtigen Zeit in den notwendigen Mengen verfügbar seien, so Glaeske. Die Reaktionen der übrigen Hersteller seien schließlich voraussehbar: „Wenn nur einer den Vertrag bekommt, werden andere ihre Produktion zurückfahren. Und dieses Risiko fällt dann auf die Versicherten zurück.“
In etlichen Ländern gab es bereits Versorgungsschwierigkeiten
Der Gesetzgeber will zwar einen Preiswettbewerb für Pharmaprodukte, hat den Kassen aber für Impfstoffe die Möglichkeit zu Rabattverträgen wieder genommen. Aus gutem Grund: Aufgrund solcher Exklusivverträge kam es bereits in etlichen Bundesländern zu Versorgungsschwierigkeiten.
„Die Herstellung von Impfstoffen ist komplex und geht daher mit Unwägbarkeiten einher, die auch Auswirkungen auf die Sicherheit und Sicherstellung der Versorgung haben können und im Falle von exklusiven Rabattverträgen zu Unsicherheiten bei der Versorgung und zu zeitweiligen Lieferproblemen führen können“, heißt es in der Gesetzesbegründung von 2017. „Um dies zu vermeiden, sollen künftig die Impfstoffe aller Hersteller für die Versorgung zur Verfügung stehen. Mit dem Inkrafttreten der Regelung entfällt die Grundlage für die exklusive Versorgung mit Impfstoffen.“
Zudem sollten die Ärzte in die Lage versetzt werden, unter verschiedenen Impfstoffen je nach Patient auswählen zu können. Bei einer Festpreisregelung, wie sie jetzt die AOK Nordost getroffen hat, entscheidet in der Regel jedoch der Apotheker – und zwar mit Blick aufs Monetäre. Die Mediziner sind von den Kassenärztlichen Vereinigungen angehalten, die benötigten Impfdosen ohne Nennung des Produktnamens zu verordnen.
Der in Frage kommende Impfstoff ist nur für Erwachsene zugelassen
Auch die Impfung von Kindern und Jugendlichen werde durch das AOK-Manöver erschwert, lautet die Kritik. Der Impfstoff des zum Zuge kommenden Herstellers Mylan ist nämlich nur für Erwachsene zugelassen. Ärzte, die AOK-Patienten unter 18 impfen wollen, müssten dafür ausdrücklich andere Impfstoffe ordern, die AOK müsste dies eigens genehmigen. Ein enormer Bürokratieaufwand, nur um ein bisschen Geld zu sparen.
Die AOK Nordost wies die Vorwürfe zurück. „Die Preisvereinbarung mit den Apothekerverbänden ist explizit herstellerunabhängig ausgestaltet, so dass grundsätzlich alle am Markt befindlichen Impfstoffe abgegeben werden können“, sagte ein Sprecher. Und eine Verpflichtung für Apotheker, nur bestimmte Produkte zu wählen, gebe es „auch faktisch nicht“.
Konkurrenten produzieren nun weniger - und können bei Problemen kaum einspringen
Tatsächlich dürften sich jedoch nicht viele Apotheker finden, die für AOK-Patienten teurere Hersteller wählen – und dadurch freiwillig draufzahlen. Es gebe bei der Kasse offenbar die Vorstellung, dass auch andere Produzenten ihre Listenpreise noch senkten, heißt es in der Branche. Doch das sei kaum machbar. Stattdessen stellt man sich bei Sanofi und GlaxoSmithKline nun auf einen deutlich verringerten Umsatz im Nordosten der Republik ein. Die Folge: Es wird weniger Impfstoff produziert. Und es gibt im Fall des Falles für diese Region dann auch kaum Reserven.
In der AOK Nordost spielen sie dieses Risiko herunter. Nach den Erfahrungen vergangener Jahre würden in der laufenden Saison „lediglich Nachbestellungen in einer Größenordnung von nur weniger als zehn Prozent durch die Ärzte notwendig“. Bei Sanofi haben sie andere Zahlen: Allein zwischen Oktober und Dezember 2017 seien kurzfristig noch mal 30 Prozent des Grippeimpfstoffs nachbestellt worden.