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Anreize, Zwang oder Solidarität aus Einsicht? Gesundheitsminister Jens Span und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder haben sich bei der Impfbereitschaft verkalkuliert.
© Peter Kneffel/dpa

Mehr Freiheiten für Geimpfte?: Anreize zum Impfen sind besser als Zwang

Wer sich impfen lässt, soll mit Vorteilen belohnt werden. Das ist keine Zwei-Klassen-Gesellschaft. Zu viele zögern, sich und andere zu schützen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Es ist verblüffend. Deutschland und Europa haben der Entwicklung eines Impfstoffs seit Monaten entgegengefiebert. Impfen galt als das Ticket zurück in die Freiheiten aus der Zeit vor der Pandemie – vorausgesetzt, dass genügend Menschen bereit sind, sich impfen zu lassen, um die berühmte Herdenimmunität zu erreichen.

Doch nun, da die Impfstoffe da sind, wollen überraschend viele Menschen keinen Gebrauch davon machen. Die Umfragen dazu bessern sich kaum.

Die Nachrichten dieser Tage wirken paradox. Impfdosen werden unter Polizeischutz transportiert und von Soldaten bewacht, als gehe es um einen extrem wertvollen Stoff, nach dem alle gieren. Mediziner, Ethikrat und Politik erstellen Prioritätenlisten, wer als erstes dran kommt, als wäre dies ein Privileg.

Doch viele pfeifen auf die vermeintliche Bevorzugung. So reagieren auch viele Kranken- und Pflegekräfte, die nicht nur um ihrer eigenen Gesundheit willen geimpft sein sollten, sondern wegen der Menschen mit hohem Risiko, die sich ihnen anvertraut haben.

Ein EU-Impfpass mit Vorrechten?

Der bayrische Ministerpräsident Markus Söder bringt eine Impfpflicht für Pflegepersonal ins Spiel. Sein griechischer Parteifreund Kyriakos Mitsotakis setzt dagegen auf positive Anreize für die ganze EU. Er hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen einen europäischen Impfpass vorgeschlagen, dessen Inhaber nach freiwilliger Corona-Impfung mehr Freiheiten genießen sollen als die Ungeimpften, voran Reisefreiheit.

Söders Absicht, Unwillige zwingen zu wollen, ist der falsche Weg. Mitsotakis liegt richtig. Deutschland und anderen europäische Demokratien sind keine autoritären Systeme mit Zwangsbeglückung. Sie sollten Bürgerinnen und Bürger durch Argumente und Anreize dazu bringen, das Erwünschte zu tun.

Je später, desto sicherer: Die Abwägung ist legitim

Zudem darf man aus guten Gründen zögern, sich impfen zu lassen. Die Impfstoffe wurden in beschleunigten Verfahren zugelassen, manche Risiken konnten bisher nicht so umfassend getestet werden, wie das bei regulären Überprüfungen neuer Arzneien außerhalb des Pandemie-Ausnahmezustands Pflicht ist, von Allergien bis Langzeitfolgen.

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Es ist verständlich, wenn Menschen nach der Devise „je später, desto sicherer“ nicht zur ersten Gruppe gehören wollen und lieber abwarten – in der Hoffnung, dass potenzielle Nebenwirkungen im Zuge der Massenimpfungen erkannt und beseitigt werden. Dieses Verhalten ist rational und legitim.

Für die Gesellschaft insgesamt ist es aber kontraproduktiv. Wenn kaum jemand den Anfang machen möchte, rückt die Herdenimmunität in weite Ferne. Und damit auch die Rückkehr zum Alltag, den doch alle herbeisehnen, aus sozialen wie ökonomischen Gründen.

Der erste Debattenversuch wurde diskreditiert

Der Anreiz mit Vorteilen, wie ihn Mitsotakis vorschlägt, passt besser zu Demokratie und Marktwirtschaft. Er ist nicht der Erste. Auch in Deutschland hatte diese Debatte im alten Jahr bereits einmal begonnen: Besuche in Cafés, Restaurants, Kinos und Urlaubsreisen nur für Geimpfte. Doch eine große parteiübergreifende Koalition hat sie rasch abgewürgt, mit diskreditierenden Etiketten: keine Sonderrechte, keine Zwei-Klassen-Gesellschaft, der Ansatz sei unsolidarisch.

Solidarität definierte, zum Beispiel, Gesundheitsminister Jens Spahn damals so: „Viele warten solidarisch, damit einige als erste geimpft werden können. Und die Noch-Nicht-Geimpften erwarten umgekehrt, dass sich die Geimpften solidarisch gedulden.“

Wer sich rasch impft, hilft allen. Das soll man belohnen

Die Annahme, alle wollten sich rasch impfen lassen, hat sich jedoch als Irrtum erwiesen. Menschen wägen ab zwischen Vorteilen und Nachteilen, zwischen Risiken, die sie durch späteres Impfen reduzieren können, und Vorteilen, die sie durch früheres Impfen erlangen.

Bürgerinnen und Bürger, die rasch dazu bereit sind, schützen nicht nur sich, sondern auch Andere. Es ist zwar nicht garantiert, dass Geimpfte niemanden mehr anstecken können. Mehr Impfungen senken aber die Ansteckungsgefahr insgesamt und das Risiko schwerer Verläufe. Warum soll man die Willigen nicht mit Anreizen belohnen, um das Zögern zu überwinden?

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