Merkels Rückzug: Anleger und Wirtschaft hoffen auf frischen Wind aus Berlin
Die Börse jubelte nach Merkels Ankündigung. Die Wirtschaft äußert sich zwiespältig. Die einen hoffen, die anderen bangen.
Der Handelsstart an der Frankfurter Börse war gerade eine Stunde her, der Dax war bislang ohne eindeutige Tendenz herumgedümpelt. Doch als um kurz nach zehn Uhr die ersten Eilmeldungen besagten, Angela Merkel werde im Dezember nicht mehr zur Wahl als CDU-Parteivorsitzende antreten, ging der Kurs steil nach oben. Deutlich über zwei Prozent legte der Aktienindex der 30 größten deutschen Unternehmen binnen gut zwei Stunden zu. Dass Merkel auch ihre Zeit als Kanzlerin nach der nächsten Bundestagswahl beenden will, änderte nichts an diesem Trend. „Die Anleger hoffen auf frischen Wind in Berlin“, sagte ein Händler auf dem Parkett. „In der Regierung ist zu Vieles festgefahren.“ Entscheidend sei weniger, was passiere, sondern dass überhaupt etwas passiere.
In der Wirtschaft wurde die Nachricht von Merkels Rückzug unterschiedlich bewertet. Mario Ohoven, Präsident des Bundesverbandes mittelständische Wirtschaft (BVMW), sieht darin eine Chance. „Aus Sicht der Wirtschaft muss mit dem Wechsel an der Spitze der CDU auch ein Wechsel der Politik verbunden sein“, so Ohoven im Gespräch mit dem Tagesspiegel. „Wenn Frau Merkel dazu nicht bereit ist, wäre es konsequent, auch das Amt der Bundeskanzlerin aufzugeben.“ Es brauche „einen Neustart der GroKo“. Ohoven hat auch schon einen Favoriten als künftigen Parteivorsitz der Christdemokraten. „Jetzt muss jemand die CDU-Führung übernehmen, der insbesondere wieder wirtschaftspolitische Kompetenz mitbringt“, sagte der BVMW-Präsident. Friedrich Merz sei ein Kandidat, „mit dem die Wirtschaft gut leben könnte“. Schon Ende 2017 habe sich die Mehrzahl der BVMW-Mitglieder für Merz als Nachfolger von Merkel ausgesprochen. Der Verband der Jungen Unternehmer sieht im personellen Neuanfang der CDU ebenfalls eine Gelegenheit zur Neuausrichtung. „Die CDU hat die Chance, ihre Politik zu verjüngen“, sagte die Vorsitzende Sarna Röser dieser Zeitung. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag sowie der Bundesverband der deutschen Industrie wollten sich auf Nachfrage nicht äußern.
Ambitioniertere Wirtschaftspolitik gefordert
Führende Wirtschaftsexperten nutzten die Ankündigung Merkels, die Bundesregierung zu einer ambitionierteren Wirtschaftspolitik aufzufordern. Der Direktor des Wirtschaftsforschungsinstituts IW Köln, Michael Hüther, sagte: „Erschreckend ist die Fantasielosigkeit der Bundesregierung. Doch das hat nicht mit der Hessenwahl begonnen, sondern hat sich schon im Koalitionsvertrag gezeigt.“ Der Rückzug Merkels hat auf die deutsche Wirtschaft aus seiner Sicht keine negativen Auswirkungen. „An der Auftragslage und dem Investitionsstandort Deutschland ändert das nichts“, so Hüther. „Der oder die neue CDU-Vorsitzende muss jetzt frischen Wind in die Partei bringen und sie auch programmatisch neu aufstellen.“ Auch Clemens Fuest, Präsident des Ifo-Instituts , forderte „eine überzeugende Zukunftsstrategie“. „Es ist dringend notwendig, dass Deutschland eine handlungsfähige Regierung hat“, sagte Fuest. Die Politik müsse einen Weg finden, die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft zu sichern. „Die Große Koalition sollte aufhören zu streiten und sich auf die Inhalte konzentrieren“, so Fuest weiter. „Wenn das nicht möglich ist, sollte man sie so schnell wie möglich auflösen.“
Deutlich negativer blickt Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, auf Merkels Entscheidung. Er nannte ihren Rückzug einen „Schock, der große Unsicherheit schafft“. „Eine starke Bundeskanzlerin und eine handlungsfähige Bundesregierung waren stets Garant für die Stabilität in Europa“, so Fratzscher. „Der Stabilitätsanker Deutschland existiert so nicht mehr.“
Doch während sich in Berlin ein langsamer Machtwechsel andeutet, dürfte in Hessen die Koalition aus Christdemokraten und Grünen ihre Arbeit fortsetzen können. Es ist zu vermuten, dass das vor allem für die Automobilindustrie Folgen haben wird. Sowohl Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) als auch die Grünen hatten in der Diesel-Debatte geschlossen und nachdrücklich für Nachrüstungen plädiert – und die Autohersteller zur vollständigen Kostenübernahme aufgefordert. Bouffier hatte zudem kurz vor der Wahl dafür gesorgt, dass auch Frankfurt am Main in die Liste der nun 15 von Stickoxidemissionen besonders belasteten „Intensivstädte“ aufgenommen wurde. In einem gemeinsamen Brief forderte die hessische Landesregierung die Berliner Koalition außerdem zu einer Präzisierung ihres schwammigen Diesel-Konzepts auf.