Rechtsextreme auf den Stufen des Reichstags: Angriff aufs Herz? Die Demokratie schrumpft sich selbst!
Seit Rechtsextreme die Stufen zum Reichstag hochgerannt sind, überschlagen sich die Superlative der Betroffenheit. Warum das gefährlich ist. Ein Kommentar.
Wenn Politiker nicht mehr unterscheiden zwischen Realität und Symbol, zwischen einem Scharmützel am Rande einer Demonstration und dem „Sturm auf den Reichstag“, schrumpfen sie sich selbst. Und noch schlimmer: Sie schrumpfen auch die tatsächlichen Gefahren, die vom Rechtsextremismus in Deutschland ausgehen.
Ein chaotischer Moment am Rande der Corona-Demonstration wird zum Beinahe-Untergang der Demokratie aufgepumpt
Genau das geschieht, seit am Samstagabend die schwarz-weiß-rote Reichsflagge auf den Stufen zum Haupteingang des Reichstags zu sehen war, und die Politik darüber in Aufruhr geriet. „Beschämend“, „verabscheuenswürdig“, „unerträglich“ – das ist die Tonlage. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sprach sogar von einem „unerträglichen Angriff auf das Herz unserer Demokratie“ und hat am Montag die Polizistinnen, die auf der Treppe im Dienst waren, im Schloss Bellevue empfangen. Sein Kalkül: Bevor die Rechten die Ikonographie für sich nutzen können, tun wir es lieber - wir, die Demokraten - und verwandeln den Moment der Verunsicherung in einen Moment der Selbstvergewisserung. Allein: Die allgemeine Betroffenheit hat den gegenteiligen Effekt. Ein chaotischer Moment am Rande einer Großdemonstration wurde zum Beinahe-Untergang der deutschen Demokratie aufgepumpt. Was für ein Unsinn.
Was ist denn tatsächlich passiert? Eine Heilpraktikerin aus der Eifel trötete in ein Megaphon, US-Präsident Donald Trump sei in Berlin gelandet. Die Polizei war in der Unterzahl. Eine Gruppe von Demonstranten, euphorisiert von einem langen Tag unter (vermeintlich) Gleichgesinnten, rannte die Stufen zum Haupteingang des Reichstagsgebäudes hinauf. Die Menge konnte von den Beamten wieder zurückgedrängt werden. Ja, die Symbolkraft mag groß sein. Der tatsächliche Schaden ist gering. Das gilt für die Szene vor dem Reichstag ebenso wie für die gesamte Demonstration. Wendet man den Blick von den Bildern ab und den Zahlen zu, ist nicht erkennbar, dass die Gefahr für die Demokratie durch die Corona-Proteste zugenommen hat.
Eine Heilpraktikerin aus der Eifel soll die deutsche Demokratie kippen können?
Sozialwissenschaftler können keine Zunahme verschwörungstheoretischer Einstellungen feststellen. Die AfD hat unter der neuen Beliebtheit von Angela Merkel gelitten und stagniert in den bundesweiten Umfragen. Das Vertrauen in die Bundesregierung normalisiert sich nach dem krisenbedingten Hoch wieder – ist aber weiterhin gut. Dass die Demonstration so groß werden konnte, scheint eher einer Ad-hoc-Koalition verschiedener Gruppierungen ohne echte Bindungen und Gemeinsamkeiten geschuldet zu sein.
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Vereint werden sie eher durch Grundmuster im Denken als durch politische Ziele: Da ist einerseits eine platonische Euphorie, eine vermeintlich bislang verborgene Wahrheit erkannt zu haben. Diese Wahrheit ist praktischerweise viel einfacher als die komplexe Realität und eignet sich daher als Zufluchtsort vor Überforderung. Da ist die Lust am „Widerstand“, ein Überdruss daran, Regeln zu befolgen. Da ist die Begeisterung, sich als Teil einer „Bewegung“ zu fühlen, als Teil einer „wahren Mehrheit“, verstärkt durch Telegram-Kanäle und Youtube-Streams. Impfgegner und Rechtsextreme eint außerdem die Vorstellung von einem „Naturzustand“ der Welt, der durch äußere Einflüsse gestört wurde und wiederhergestellt werden muss.
Die Demonstranten sind eine lose Ad-hoc-Koalition, geeint im Weltbild, aber ohne gemeinsame Ziele oder Vordenker
All das sind Denkmuster, aus denen totalitäres Denken und Handeln erwachsen kann, aber nicht muss. Konkrete gemeinsame Ziele gibt es nicht, so wenig wie echte Führungsfiguren oder „Vordenker“. Die Masse vom Wochenende weiß gar nicht so recht, was sie mit der spontan errungenen Totalaufmerksamkeit der Republik anfangen soll. Eine neue Verfassung für Deutschland erarbeiten? Die Corona-Maßnahmen abschaffen – nur: welche eigentlich? Ikonographisch am vermeintlichen „Sturm auf den Reichstag“ scheint daher auch die offensichtliche Ratlosigkeit derer, die am oberen Ende der Stufen angekommen waren: Was nun? Am Ende lenkt die Aufregung über die Demonstrationen vom Wochenende von den tatsächlichen Gefahren für die Demokratie ab.
Die Betroffenheit lenkt von den eigentlichen Gefahren ab: Die Rechtsextremen sind ja längst im Reichstag
Die Rechtsextremen sind schließlich längst „drin“, und zwar nicht nur im Reichstag, sondern im Bundestag. Sie sind nicht nur im Gebäude, sondern Teil der Institution. Die Demokratie ist nicht in Gefahr, weil ein paar Faschos und Esoteriker ein paar Stufen erklimmen, sondern wenn es ihnen gelingt, sie zu durchdringen: als gewählte AfD-Abgeordnete in Parlamenten oder als hessische Polizisten mit Zugriff auf Personendatenbanken oder als Ausbilder beim KSK.
Dieser Unterschied zwischen Symbol und Substanz muss gewahrt bleiben. Wer das nicht schafft, tappt in die Falle der Ikonographie.
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