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Politik: „Andere gehen mit Illegalität weniger verkrampft um“

Die Stadt München hilft Menschen, die im Grunde gar nicht hier sein dürften – ein Wissenschaftler erklärt, warum

Herr Anderson, Migranten ohne Aufenthaltsrecht sind illegalerweise hier. Warum sollte sich der Staat um sie kümmern?

Die Illegalität ist die eine Seite der Medaille. Das Leben dieser Menschen hier produziert aber immer wieder Widersprüche, die man irgendwie auflösen muss: Wie kann die peruanische Haushaltshilfe ohne Krankenversicherung entbinden? Wir haben Schulpflicht, aber wie kommen die Kinder von Illegalen in die Schule, ohne dass ihre Eltern mit der Anmeldung, also dem Auftauchen aus der Illegalität, Abschiebung fürchten müssen? Ein Arzt muss jedem Kranken helfen – soll er ihn danach bei der Ausländerbehörde anzeigen?

Was lässt sich da von München lernen?

Als ich 2001 im Auftrag der Stadt die Studie über die Lage von Illegalen begann, ging es einmal darum, Informationen zu bekommen – nach der ersten Studie von Pater Jörg Alt in Leipzig wollte man etwas über die Situation in einer Westkommune wissen. Der Auftrag sah aber auch einen sogenannten Begleitbeirat zur Studie vor. Das hieß, dass ich regelmäßig mit der Münchner Gesundheitsbehörde, dem Sozialamt, dem Ausländerreferat und der Schulbehörde über meine Ergebnisse sprach. Natürlich waren die Sicherheitsleute alles andere als begeistert, aber sie waren von Anfang an eingebunden und so kam etwas ins Laufen, man verstand: Es gibt Illegale, die man unterstützen muss. Die Juristen fragten sich zum Beispiel: Die Rechtslage ist so und nicht anders, aber wo haben wir Spielräume? Wie können wir zum Beispiel verhindern, dass ein Arzt, der einen Illegalen behandelt, sich strafbar macht?

Und was folgte aus der Studie?

Die Sache ging zurück an den Stadtrat und es wurden Beschlüsse daraus. Inzwischen ist ein Gesundheitsfonds für die Stadt im Aufbau, aus dem die ärztliche Versorgung von Illegalen in teureren Fällen bezahlt werden soll. Es gibt eine Anweisung an die städtischen Schulen, Kinder auch ohne Dokumente aufzunehmen. Solange es irgend möglich ist, stellen die Schulen den Eltern keine Fragen. Und wenn eine Frau ein Kind erwartet, kooperieren Gesundheits- und Ausländerbehörde und sie bekommt Unterstützung aus dem Asylbewerberleistungsgesetz auch während der Vorsorgeuntersuchungen für sich und das Kind. Außerdem gibt es eine anonyme Beratung, die zum Beispiel Wege aufzeigt, wie man aus der Illegalität herauskommt. Das ist in Deutschland sehr schwer.

Wie erfahren Illegale überhaupt, dass sie mit Hilfe rechnen können?

Vor allem über die Gruppen, mit denen sie Kontakt haben, Landsleute, Migrantenselbstorganisationen, viele auch über die Kirchengemeinden ihrer Muttersprachen. Natürlich gab es am Anfang Misstrauen gegen die Behörden. Viele fragten sich, ob man den städtischen Referaten trauen könne. Aber sie haben dann in Einzelfällen probeweise Kontakt aufgenommen und festgestellt, dass die Behörde wirklich half und das nicht nutzte, Abschiebungen vorzubereiten.

Innenpolitiker, nicht nur in Bayern, meinen meist, etwas anderes als die harte Linie sei den Bürgern nicht zu vermitteln.

Das stimmt, solange „der Ausländer“ kein Gesicht hat. Sobald es um einzelne Menschen geht, ändert sich das. Der Metzgermeister in Oberbayern, der nicht einsieht, warum er den fleißigen, gut eingearbeiteten und bei den Kunden beliebten Mitarbeiter aus Mittelamerika verlieren soll, der fragt sich nicht nur, was der Quatsch soll, der protestiert auch bei seinem Landtagsabgeordneten und schreibt ihm, dass es ja nicht die Schuld des Mannes sei, dass er illegal sei. Und der Vermieter, der einen Ghanaer als Hausmeister zum Billigtarif beschäftigt, entdeckt plötzlich, dass der Mann eine Tochter versorgen muss. Sobald aus zweifelhaften Rechtsfällen dreidimensionale Menschen werden, entsteht Verständnis für ihre Situation – sie sind nicht mehr nur die stille Reserve, die man unbekümmert ausbeuten kann.

Das klingt ja nach der reinen Idylle. Das ist das Leben Illegaler wohl nicht, oder?

Ganz und gar nicht. Im Baugewerbe zum Beispiel sind die Sitten sehr rau, da sind die Leute manchmal in Lebensgefahr. Es gibt Bauunternehmer, die, wenn sich einer ihrer illegalen Angestellten schwer verletzt hat, Wege kennen, das Problem zu entsorgen, um nicht selbst Probleme zu bekommen.

Was hindert uns, Einsichten wie die aus München in die größere Politik einzuspeisen, vielleicht ins Zuwanderungsgesetz?

Deutschland hat ein historisches Problem. Es sieht sich noch immer nicht als Einwanderungsland. Länder, die dies tun, gehen auch mit Illegalität weniger verkrampft um. Sie dulden sie nicht einfach, aber sie lassen Übergänge zu. Die deutschen Gesetze sind so restriktiv, dass sie Illegalität geradezu produzieren. Und da in Deutschland ein Dokumentenfetischismus herrscht, empfindet die politische Klasse Illegalität geradezu als Provokation. Während die USA, Großbritannien, die Niederlande, Frankreich – deren Politik keineswegs ideal ist – von Staatsbürgern anderer Herkunft ausgehen, ist bei uns der einzige Ansatz, die Dinge anders zu sehen, der sozialarbeiterische. Er kommt von den Wohlfahrtsverbänden, den Kirchen und engagierten Bürgern. Was sie tun, ist aber natürlich auch Menschenrechtspolitik.

Ist Deutschland ein hoffnungsloser Fall?

Nein. Schon jetzt verändert sich etwas, fast unbemerkt. Sehen Sie sich die Menschenvielfalt in den Städten an: Die Städte sehen heute ganz anders aus als noch vor zehn Jahren. Migranten werden selbstverständlich und viele sein, sie werden hier arbeiten und nicht mehr dulden, anders behandelt zu werden. Und sie werden in die Mehrheitsbevölkerung einheiraten und Kinder bekommen. Wie ein Pastor einmal sagte: Der Geschlechtsverkehr ist ein großer Gleichmacher.

Das Gespräch führte Andrea Dernbach.

Philip Anderson (49), Engländer anglo-indischer Herkunft, lebt seit 1980 in Deutschland. Der in München promovierte Historiker und Sozialwissenschaftler forscht vor allem über Migration.

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